Deutschlands kleinste Fähre kreuzt den Fluss bei Seester. Verein macht die Kronsnester Wasserverkehrsgeschichte lebendig
Seester/Neuendorf. Auf den ersten Blick hat Hermann Röttger, 56, ein bisschen Ähnlichkeit mit einem Gondoliere, wenn er Deutschlands kleinste Fähre über die Krückau manövriert. Wie seine venezianischen Kollegen steht der Fährmann aus Seestermühe auf dem Heck des Kahns, wie die Italiener bewegt und steuert Röttger sein Vehikel, auf dem maximal sieben Passagiere Platz haben, mit einem langen Holzriemen. Und wie in der mediterranen Lagunenstadt ist das liebenswerte Transportmittel nicht nur praktisch, sondern vor allem eine Touristenattraktion. Aber damit enden auch schon die Gemeinsamkeiten.
Kronsnest ist nicht Venedig, die Krückau nicht der Canale Grande. Und die flache "Hol Över", eine 650 Kilo schwere Fähre aus massiver Eiche, keine verschnörkelte Gondel. Außerdem stakt Röttger das Boot nicht, sondern er wriggt es durch die Strömungen der Krückau maximal 40 Meter weit zum anderen Ufer. "Beim Wriggen dreht man das Ruderblatt im Wasser wie eine liegende Acht", sagt der Hobby-Fährmann. Nach 20 Jahren im Geschäft sieht das bei ihm kinderleicht aus.
Er erinnert sich jedoch noch gut an die mühsamen Anfänge 1993, als der ein Jahr zuvor gegründete Verein Kronsnester Fähre die historische Transportvariante mit viel Enthusiasmus wieder in Gang brachte. "Nach meinem ersten Pfingsteinsatz habe ich mich auf den Brustwarzen nach Hause geschleppt", sagt Röttger, im Hauptberuf Betriebsprüfer beim Hamburger Finanzamt. An Frühlingsfeiertagen spürt der Hobby-Fährmann auch heute noch jeden Muskel. Dann rennen die Ausflügler dem kleinen Verein buchstäblich die Bude ein. 1067 Passagiere haben Röttger und sein Kollege Reiner Röschke vor kurzem allein am 1. Mai übergesetzt.
An diesem sonnigen, frischen Mainachmittag läutet die Fährglocke selten. Knapp zwei Dutzend Kinder und Erwachsene, fast ebenso viele Räder sowie ein Hund - das ist die Bilanz aus zwei stillen Stunden zwischen knospenden Apfelbäumen, singenden Vögeln und grasenden Schafen. "Die Fähre, das ist für mich als hauptberuflicher Papierraschler Entspannung pur", sagt Röttger. "Alle Leute sind gut gelaunt, wir haben im Verein eine richtig nette Truppe. Das macht einfach Spaß."
Ausflüglerin Anja Sperling, 46, nutzt die Fähre regelmäßig für Radtouren durch die Marsch. "Ich nenne es den Fischbrötchentrail", sagt sie. "Weil wir uns das erste Fischbrötchen in Kollmar gönnen und das zweite in Glückstadt." Die Kronsnest-Aufkleber mit Jahreszahlen, die die Passagiere mit den Fahrkarten bekommen, haben mittlerweile Kultstatus. Gäbe es die Fähre nicht, müssten Radwanderer einen Umweg über Elmshorn oder das Krückau-Sperrwerk fahren, um den Fluss zu überqueren. Unter der Woche und im Winter müssen sie das ohnehin, weil die Fähre nur zwischen 1. Mai und 3. Oktober an Wochenenden und Feiertagen verkehrt. Bei Kronsnest trennt die Krückau die beiden Landkreise Pinneberg und Steinburg. 40 Meter breit und vier Meter tief ist der Fluss hier, wenn die Gezeiten der Nordsee den Pegel ansteigen lassen. Bei Niedrigwasser dagegen könnte man die Krückau problemlos in Gummistiefeln durchqueren. Gerade mal 50 Zentimeter flach ist das Bächlein dann.
Seit Jahrhunderten verbindet die Fähre an dieser Stelle die Orte Seester und Neuendorf. "Urkundlich erwähnt wurde sie zum ersten Mal 1576", sagt Fährmeister und Vizevereinschef Niels-Uwe Saß, 58. Das Fährrecht, gleichzeitig die Pflicht zum Transport von Menschen, Tieren und Waren über die Krückau, hatten jeweils die Besitzer der Katenstelle Kronsnest, zu der Land auf beiden Seiten gehörte. Mangels Nachfrage stellte die Fährfamilie Tiedemann 1968 den Verkehr ein. Die Grasnarbe überwucherte die gepflasterten Spechen, die Landestellen der Fähre, und die alten Ziegelwege vom Deich hinunter an die Krückau.
Mitte der 80er-Jahre, im Zuge des landesweiten Dorferneuerungsprogramms, nahmen sich eine Handvoll engagierter Bürger um Herta Harmjanz wieder dem Fährbetrieb an. "Anfangs waren die meisten skeptisch", sagt Saß. "Aber uns war klar, das wird was." Sie sammelten Spenden, informierten sich über die Geschichte der Fährstelle, gründeten den Verein und gaben 1992 die neue Fähre bei der Werft Hatecke in Freiburg/ Elbe in Auftrag. Saß packte das Boots-Fieber derart, dass er inzwischen fast alle deutschen Fähren fotografiert hat, von der Eider bis an den Berchtesgadener Untersee. "Manche Passagiere wollten nicht glauben, dass die 'Hol Över' eine richtige Fähre ist", sagt Saß. "Deshalb habe ich mit dem Fotografieren angefangen." Drei Urlaube opferte das Ehepaar Saß für dieses Projekt.
Manchmal kommt Drewes Tiedemann zu Besuch. Er war der letzte Profi-Fährmann, setzte Menschen, Vieh und Hühner über den Fluss. Bei ihm haben Saß und Röttger das Wriggen von der Pike auf gelernt. "Er hat einfach mitten in der Krückau den Anker geworfen, und dann mussten wir den Riemen drehen, drehen, drehen. Bis der Wasserstrudel am Heck richtig war", sagt Röttger. "Am Anfang hab' ich nachts davon geträumt."
Die Fähre "Hol Över" verkehrt vom 1. Mai bis 3. Oktober an Wochenenden und Feiertagen jeweils von 9 bis13 Uhr und von 14 bis 18 Uhr zwischen Seester und Kronsnest/Neuendorf. Erwachsene und Jugendliche zahlen einen Euro pro Person, Kinder bis zwölf Jahre die Hälfte. Der Fahrradtransport (ab 26er-Größe) kostet jeweils 0,50 Euro.