Der Küstenforscher Professor Hans von Storch gibt im Abendblatt-Interview Entwarnung: Die Deiche sollen mindestens bis 2030 halten.
Kreis Pinneberg. Wie sicher sind unsere Deiche? 2012 jährt sich die Jahrhundert-Sturmflut von 1962 zum 50. Mal. Doch viele Menschen glauben, dass es erneut zu einer derart schweren Sturmflut kommen könnte. Das wirft die Frage auf, wie sicher die Deiche heute sind und wie lange sie noch halten.
Professor Hans von Storch ist Leiter des Instituts für Küstenforschung am Forschungszentrum der Gesellschaft für Kommunikation, Schutz und Sicherheit (GKSS) in Geesthacht. Im Gespräch mit dem Abendblatt spricht er über Konzepte für den Küstenschutz und die Sicherheit in den von Überschwemmungen gefährdeten Gebieten.
Hamburger Abendblatt:
Herr von Storch, in Zeiten globaler Erwärmung und ansteigender Meeresspiegel stellen sich viele Menschen die Frage: Wie lange halten die Deiche?
Professor Hans von Storch:
Untersuchungen der Universität Braunschweig zeigen, dass heutige Deiche quasi unkaputtbar sind. Moderne Deiche werden nicht mehr wie 1962 zerschlagen und ausgespült, sondern werden schlimmstenfalls überspült, wenn der Wasserstand die Höhe der Deichkrone übersteigt. Bei den derzeitigen "Bemessungen" einer den Sicherheitsstandards genügenden Deichhöhe wird dem erwarteten Anstieg des Meeresspiegels in den kommenden Jahrzehnten Rechnung getragen. Des Weiteren werden Küstenschutzanlagen heute meist so gebaut, dass sie in Zukunft weiter verstärkt werden können. Meine Faustregel ist: wo heute die Sicherheitsstandards eingehalten werden, wird dies mit geringen Abstrichen auch bis 2030 der Fall sein. Für die Deutsche Bucht erscheinen bis 2030 Anstiege von Sturmfluthöhen von 30 cm im Vergleich zu heute als pessimistisch geschätzte Obergrenzen. Da der Anstieg des Meeresspiegels ein andauernder Vorgang ist, der nicht innerhalb der nächsten Jahrhunderte "abgeschlossen" sein wird, wird sich die Lage verschärfen in den Jahrzehnten nach 2030. Dann können weitere Maßnahmen nötig werden, und wir sollten die Zeit nutzen, darüber nachzudenken, was technisch möglich und was gesellschaftlich akzeptabel ist.
Wie kommen sie zu dieser Ansicht, gibt es dazu Forschungsergebnisse, die ihre Thesen belegen?
Von Storch:
Zu dem Thema gibt es einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen. Unsere Küsteningenieure untersuchen Fragen wie die Standfestigkeit der Deiche oder der Bemessungshöhen. Wir Klimaforscher befassen uns mit der Frage, wie sich zukünftig Meeresspiegel und Windklima im Zuge des sich entfaltenden menschgemachten Klimawandels entwickeln können. Wir halten Obergrenzen von 30 Zentimeter Anstieg bis 2030 und 110 Zentimeter Anstieg bis 2085 für plausibel. Diese Abschätzungen beruhen aber auf Modellrechnungen. Dabei spielt der Anstieg des globalen Meeresspiegels eine entscheidende Rolle. Die Unsicherheit nach 2030 ist also erheblich, und wir sollten die Entwicklung sehr genau im Auge behalten. Im Bereich der Deutschen Bucht können wir bisher keine Auffälligkeiten bemerken, der derzeitige Anstieg liegt im Rahmen der Meeresspiegelschwankungen im 20ten Jahrhundert.
Gibt es denn schon Lösungsansätze für die Zeit nach 2030?
Von Storch:
Ja, es werden Konzepte wie die Verstärkung der Küstenschutzanlagen, ein Rückzug, weiteres Aufspülen und andere Maßnahmen diskutiert. In Bezug auf Hamburg und die Unterelbe gibt es das Tideelbeprojekt, von dem man sich durch bauliche Maßnahmen eine Reduktion - nicht nur der Sturmfluthöhen - vor allem im Mündungsbereich der Elbe erhofft. Grundsätzlich denkbar ist auch, dass Konzept der "niemals-nassen-Füße" zugunsten "selten nasser, aber dann vorgewarnter Füße" zu ersetzen, das bedeutet: Im Falle von seltenen, besonders schweren Sturmfluten ein Eindringen von Meerwasser in niedrig gelegene Gebiete zu gestatten, wobei vorher die Verletzlichkeit von Menschen und Gütern in dem betreffenden Gebiet durch geeignete Maßnahme vermindert wurde. Etwa durch Warften und Fluttore, wie es bereits in der Hamburger HafenCity sehr gut praktiziert wird.
Welche Maßnahmen gibt es schon jetzt, die dem Schutz der Bevölkerung dienen, im Bezug auf Sturmfluten und Überschwemmungen?
Von Storch:
Im Hamburg gilt ein umfassendes Küstenschutzkonzept für Sturmfluten. Vom zuständigen Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer in Hamburg habe ich gelernt, dass die öffentliche Hochwasserschutzlinie in Hamburg eine Länge von 103 km hat, wovon 78 km auf Deiche und 25 km auf Hochwasserschutzwände entfallen. Zusätzlich gibt es 6 Sturmflutsperrwerke, 6 Schleusen, 27 Schöpfwerke und Deichsiele und 38 größere Tore in der Regie des öffentlichen Hochwasserschutzes in Hamburg. Daneben gilt auch ein umfassendes Binnenhochwasserkonzept.
Was können die Anwohner in den von Überschwemmungen bedrohten Gebieten tun, um sich zu schützen?
Von Storch:
Das wichtigste Element ist das Risikobewusstsein. Gerade deshalb ist die Erinnerung an den 17. Februar 1962 so wichtig, und das Vergessen der großen Ostseesturmflut von 1872 so bedauerlich. Hält man sich in einem Gebiet auf, das sturmflut- oder überschwemmungsgefährdet ist? Was sehen die zuständigen Behörden für den Fall der Fälle vor? Entsprechende aktuelle Warnungen sollte man ernst nehmen, und nicht einfach den "Tatort" zu Ende sehen. Bei einer Sturmflut steigt der Wasserstand schnell.
Was führt zu den erhöhten Wasserständen? Sind sie nur das Resultat der globalen Erwärmung oder gibt es andere Ursachen?
Von Storch:
Im Wesentlichen gibt es vier Gründe, wovon einer der menschgemachte Klimawandel ist, also die Erwärmung der Atmosphäre aufgrund erhöhter Konzentrationen von Treibhausgasen. Daneben sehen wir einen dauernden Anstieg des Meeresspiegels nicht nur in der deutschen Bucht von vielleicht 20 Zentimeter pro Jahrhundert, der vermutlich mit dem Ende der kleinen Eiszeit zusammenhängt. Schließlich bewegt sich das Land in der Vertikalen - man denke an die deutlichen Anstiege im Norden Skandinaviens - auch bei uns; hier gibt es noch Forschungsbedarf. Wichtige Faktoren können auch wasserbaulicher Maßnahmen sein - vor allen in den Unterläufen von Elbe, Weser und Ems. Im Vergleich zur Zeit vor 1962 läuft heute eine Sturmflut in Hamburg 70 Zentimeter höher auf als in Cuxhaven, was durch verbesserten Küstenschutz und bessere Schiffbarkeit der Unterelbe zu erklären ist. Hier setzt das Tideelbeprojekt an. Weitere Vertiefungen der Fahrrinne werden die Situation nur noch unwesentlich ändern. Für die Zukunft wird der Effekt der globalen menschgemachten Erwärmung dominant sein.