Tabuthema: 15 000 Frauen und Männer im Kreis Pinneberg können nicht richtig lesen und schreiben.

Kreis Pinneberg. Als Klaus-Dieter P. (Name geändert) mit 15 Jahren aus der Schule entlassen wurde, konnte er sein Zeugnis kaum entziffern. "Wir waren damals fast 40 Kinder in der Volksschulklasse in Krupunder - da konnte sich der Lehrer natürlich nicht um alle kümmern", erinnert sich der heute 51 Jahre alte Pinneberger.

Eigentlich sollte Klaus-Dieter P. die Sonderschule besuchen, doch die war von seinem damaligen Wohnort zu weit entfernt. Und da blieb er eben in der "normalen" Schule, wurde irgendwann ganz nach hinten gesetzt - und vergessen. Nach der sechsten Klasse war seine Schulkarriere beendet. Klaus-Dieter P. hat noch drei Geschwister, die in der Schule auch nicht das Lesen und Schreiben gelernt haben. Sein Vater war ebenfalls Analphabet.

Michael M. (Name geändert) stammt aus einem kleinen Ort bei Pinneberg. Der 40-Jährige hat die Heinrich-Hanselmann-Förderschule in Pinneberg bis zur achten Klasse besucht - Lesen hat er gelernt, doch mit dem Schreiben hapert es. Nach der Schule arbeitete er als Dreher in der Behindertenwerkstatt der Lebenshilfe an der Rellinger Straße in Pinneberg.

Klaus-Dieter P. und Michael M. sind zwei Beispiele für ein Problem, das in Deutschland lange Zeit ignoriert wurde: Analphabetismus. Nach Schätzungen des Bundesverbandes Alphabetisierung sind zwischen ein und vier Millionen Deutsche "funktionale Analphabeten", das heißt, sie verfügen nur über unzureichende Lese- und Schreibfähigkeiten, obwohl sie mehrere Jahre zur Schule gegangen sind. Im Kreis Pinneberg mit seinen knapp 300 000 Einwohnern leben demnach bis zu 15 000 Analphabeten!

In einer Gesellschaft, in der bereits Zehnjährige problemlos alle gängigen Computersprachen beherrschen, sind Analphabeten in kaum vorstellbarem Maße benachteiligt: Analphabeten können keine Zeitung lesen, sitzen hilflos vor Stadtplänen und Formularen - Verträge unterschreiben sie, ohne auch nur das Großgedruckte gelesen zu haben.

Auf dem Arbeitsmarkt haben Analphabeten dann kaum eine Chance. Für praktisch jeden Lehrberuf werden Lese- und Rechtschreibkenntnisse vorausgesetzt. Was bleibt, sind Hilfs- und Anlerntätigkeiten.

Klaus-Dieter P. hatte zunächst Glück: Nach der Schule arbeitete er in einer Baumschule, dem Chef wars egal, dass er nicht lesen und schreiben konnte. Danach hat er über 20 Jahre bei einer großen Firma im Kreis Pinneberg gearbeitet - zunächst als Beifahrer, dann in der Expedition. Dass er nicht lesen und schreiben kann, haben seine Kollegen nicht gewusst: "Wenn auf einem Lieferschein was ausgefüllt werden musste, hab ich zu meinen Kollegen einfach gesagt: ,Mach' du mal, ich muss eben nach hinten ins Lager' oder: ,Schreib' auf, ich kontrollier' das später'", erinnert sich Klaus-Dieter P. noch sehr gut.

Das tägliche Versteckspiel, die ständige Angst, "entdeckt" zu werden, sind Klaus-Dieter P. im Laufe der Zeit buchstäblich auf den Magen geschlagen - er bekam Magengeschwüre. Sein Gesundheitszustand besserte sich schlagartig, als er sich eines Tages seinem Werkstattmeister offenbarte: Klaus-Dieter P. war bei einer internen, theoretischen Gabelstaplerprüfung mit Pauken und Trompeten durchgefallen: Er konnte die Fragen nicht lesen und hatte seine Kreuzchen irgendwo auf dem Fragebogen gemacht. Als sein Meister ihm die Fragen schließlich vorlas, beantwortete er sie alle richtig.

Als in den 90er-Jahren die Firma pleite ging, wurde Klaus-Dieter P. arbeitslos. Ein Jahr hat er zwischenzeitlich noch in einer kleinen Bäckerei gearbeitet, doch auch die machte irgendwann dicht. Seitdem sucht Klaus-Dieter P. einen Job.

Michael M. hat nach seiner Arbeit in der Behindertenwerkstatt der Lebenshilfe dies und das gemacht: Zunächst ist er mit Schaustellern durch die Lande gezogen, hat dann bei einem Bäcker gearbeitet und später sein Geld in einer Kummerfelder Baumschule verdient. Zwischenzeitlich war er immer wieder arbeitslos. Seit drei Jahren arbeitet er in Elmshorn bei der Vereinigten Gebäudereinigungsgesellschaft (VGR): "Handwerklich war ich schon immer ganz geschickt", sagt er. Dass er zwar gut lesen kann, aber Schwächen beim Schreiben hat, überspielt Michael M. gern: "Na ja, ich habe eben eine Apotheker-Schrift, die ist ziemlich unleserlich", sagt er. Und mit der neuen deutschen Rechtschreibung, da kenne er sich eben auch noch nicht so gut aus.

Klaus-Dieter P. und Michael M. besuchen mittlerweile einen Alphabetisierungskursus an der Pinneberger Volkshochschule. Klaus-Dieter P. war von einem Mitarbeiter des Überbetrieblichen Ausbildungszentrums in Elmshorn, der ihn betreute, auf diese Möglichkeit, doch noch Lesen und Schreiben zu lernen, hingewiesen worden. "Vor zwei Jahren, an meinem 49. Geburtstag, habe ich mich getraut und mich angemeldet," erinnert sich der 51-Jährige noch heute stolz.

Bei Michael M. war es die Familie - vor allem seine Schwester, die Druck machte. Er ist mittlerweile sogar schon drei Jahre im Alphabetisierungskursus, der von der Elmshorner Dozentin Inga Bruns geleitet wird. Zweimal in der Woche übt er zusammen mit Klaus-Dieter P. und drei, vier anderen, Texte zu schreiben und zu lesen "Jeder, der sich dazu durchgerungen hat, einen Alphabetisierungskursus zu belegen, ist stark motiviert und macht deshalb auch Fortschritte", sagt Inga Bruns. Oft freut sie sich richtig, wenn einer der Kursusteilnehmer es geschafft hat, einen besonders schwierigen Text zu lesen.

Michael M. hat sich übrigens ein Ziel gesetzt: Wenn er erst richtig lesen und schreiben kann, will er unbedingt seinen Führerschein machen. Auch Klaus-Dieter P. hat einen großen Wunsch: Er will endlich wieder eine Arbeit finden.