Norderstedt. Isabel Fritsche erläutert die Arbeit des Vereins – und was die Besucherinnen und Besucher des Sportfestes am 11. September erwartet.

Die Lebenshilfe Norderstedt e.V. wird in diesem Jahr 55 Jahre alt. Ob Bildung oder Freizeit – die Lebenshilfe unterstützt Menschen mit Behinderungen auf vielseitige Art. Und bringt die Stadt am Sonntag, 11. September, so richtig in Bewegung, wenn es im Stadtpark Norderstedt heißt „Sportiv – Inklusiv – Aktiv“. Ein Gespräch zum Thema mit Dipl.-Pädagogin Isabel Fritsche, die seit 2017 bei der Lebenshilfe Norderstedt unter anderem den Bildungs- und Freizeitbereich leitet.

Hamburger Abendblatt: Isabel Fritsche, wie schätzen Sie das Bild von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft ein?

Isabel Fritsche: Aus meiner persönlichen Betrachtung gibt es eine Gruppe, die kaum Berührungsängste hat und offen auf die Menschen mit Behinderungen zugeht. Die andere Gruppe ist eher ängstlich und zurückhaltend, weil sie nicht einzuschätzen kann, wie ein Mensch mit Behinderung „so tickt“. Ob das gesamtgesellschaftlich so ist, kann ich nicht sagen. Ich nehme es aber so wahr.

Wie hat sich der Umgang mit dem Thema Inklusion in den vergangenen Jahren verändert?

Inklusion ist präsenter denn je. Hervorgegangen aus dem Begriff Integration. Mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen wirklich mitzunehmen und die Welt bunter zu machen. Denn Menschen mit geistiger Behinderung unterscheiden sich in ihren intellektuellen Fähigkeiten zwar von nicht behinderten Menschen, jedoch nicht in ihren Wesenszügen. Nichts unterscheidet sie etwa darin, wie sie sich freuen, lachen, weinen und traurig sind.

Menschen mit geistiger Behinderung besitzen nicht nur eine hohe emotionale Kompetenz. Ihre sozialen Fähigkeiten gehen oft weiter, als gemeinhin angenommen wird. Selbst wenn sie nicht über Sprache verfügen, sind sie in der Lage zu kommunizieren. Auch wer nicht rechnen kann, zählt mit. Auch wer nicht sprechen kann, hat viel zu sagen.

In Norderstedt leben rund 900 Menschen mit einer Behinderung. Warum ist die Lebenshilfe für die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger wichtig?

Dazu blicken wir einmal in die Historie: Im Jahr 1967 gründete Pastor Theodor Les­cow die Lebenshilfe Norderstedt mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen einen gleichwertigen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Während seiner 23-jährigen Amtszeit entstanden nacheinander die heilpädagogische Tagesschule, die heutigen Norderstedter Werkstätten, die Schule am Hasenstieg als Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung, die Tagesstätte für Integration und die Wohnstätte „Am Wilden Moor“.

Im Jahr 1992 formierte sich die inklusive Theatergruppe „Bunte Marmeln“ – eine Kooperation der Lebenshilfe und der VHS Norderstedt. Drei Jahre später gründete die Lebenshilfe zur Betreuung von Menschen mit Behinderungen im eigenen Wohnraum den Ambulanten Dienst Norderstedt und übernahm gleichzeitig die alleinige Trägerschaft für den Familien-Unterstützenden Dienst der Stadt. Mit regelmäßigen Betreuungen der Familien und ihrer Angehörigen in ihrem häuslichen Umfeld, um sie zu entlasten und die Lebensqualität aller Familienmitglieder zu stärken. Eine Chronik ist auf unserer Homepage www.lhovn.de zu finden.

2015 haben Sie erstmals einen Bildungs- und Freizeitkatalog für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen herausgegeben. Dieser erscheint jeweils im Januar und August. Mit rund 300 Angeboten aus den Bereichen Kultur Bildung, Spaß, Natur & Erleben sowie Sport & Bewegung. Erzählen Sie uns davon.

Neben Bildungs- und Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche liegt unser Hauptarbeitsgebiet bei den Erwachsenen ab 18 Jahren. Viele von ihnen arbeiten in den Norderstedter Werkstätten. Für sie gibt es eine Auswahl an nachmittäglichen Freizeitangeboten – vom Spaziergang bis zum Kino-, Museums- oder Konzertbesuch. Immer mehr Menschen mit einer Behinderung kommen jetzt ins Seniorenalter und haben die Rente erreicht. Sie drohen häufig, in ein Loch zu fallen. Für sie bieten wir zweimal wöchentlich spezielle Vormittagsangebote an.

Welches sind Ihre persönlichen Highlights?

Für mich ist dieses Jahr der Besuch der Karl-May-Spiele in Bad Segeberg, des Ohnsorg-Theaters und des Miniatur Wunderlands in Hamburg ein Highlight. Jahreszeitlich ausgerichtete Veranstaltungen wie ein Besuch des Hamburger Doms, gemeinsames Plätzchen backen zu Weihnachten oder Eier bemalen zu Ostern gehören dazu. Beliebt sind unsere Tagesausflüge in umliegende Städte, ein Kinobesuch, Bowling, eine Fahrt zum Isemarkt nach Hamburg oder in den Trampolin Park nach Quickborn.

Wir holen die Teilnehmer dazu mit einem unserer drei Fahrzeuge von zu Hause oder einem angegebenen Treffpunkt ab und bringen sie auch wieder zurück. Generell freuen wir uns immer über Vorschläge von Teilnehmenden, die wir gern im nächsten Programm berücksichtigen.

Sie sind auch Teil des Teams der Inklusionsagentur Norderstedt. Welche Aufgabe hat die 2021 gegründete Einrichtung und wie arbeitet sie mit der Lebenshilfe zusammen?

Als Teil des erweiterten Koordinationsteams ist es mir ein Anliegen, besonders den Freizeitbereich nachhaltig inklusiv mitzugestalten und neue Kooperationen und Projekte voranzubringen. Die Inklusionsagentur ist das Folgeprojekt des Netzwerks Inklusion Innovation Norderstedt – die Internetadresse lautet www.n-i-i-n.de. Wir arbeiten mit den Partnern des Netzwerks weiterhin eng zusammen, zum Beispiel in verschiedenen Arbeitskreisen. Die Lebenshilfe Norderstedt ist in den Arbeitskreisen natürlich auch vertreten. Wir planen gemeinsam Aktionen und Veranstaltungen, um auf Inklusion aufmerksam zu machen.

„Norderstedt bewegt Inklusion“ heißt es am Sonntag, 11. September, von 11 bis 17 Uhr im Stadtpark Norderstedt. Unter diesem Motto richtet die Lebenshilfe mit Unterstützung der Aktion Mensch und weiteren Kooperationspartnern das Fest „Sportiv - Inklusiv - Aktiv“ aus.

Und das bereits zum sechsten Mal! Neben sportlichen Wettkämpfen erwarten die Teilnehmer ein buntes Rahmenprogramm, viele Mitmach-Aktionen, Live-Musik und eine große Infomeile. Wir konnten wieder eine Vielzahl an Unterstützern gewinnen wie den Hamburg Airport, das Lebenshilfe-Werk Norderstedt, den Inklusiven Sportverein Norderstedt und SC Norderstedt und TuRa Harksheide. Schwerpunkt sind die Wettkämpfe mit vier Läufen wie Kinderrennen, Inklusionslauf, Nordic Walking und Teamsprint.

Auf der Bühne rocken dieses Jahr Rosi und die Knallerbsen, eine Band der Lebenshilfe Schenefeld – und unsere eigene inklusive Band Splash, die wir 2015 in Kooperation mit der Musikschule Norderstedt gegründet haben. Sie machen tolle Musik zusammen, schreiben auch ihre eigenen Lieder. Wir freuen uns sehr auf den Hamburger Gitarristen und Inklusionsbotschafter Mischa Gohlke und sein Projekt Celebrate the Music. Trotz seiner starken Hörschädigung ist er Profimusiker geworden. Er wird mit anderen Musikern zwei Workshops anbieten, zum einen für Rhythmus und zum anderen für Gesang.

Die TeilnehmerInnen und seine Band werden ein kleines Musikstück einstudieren und zum Abschluss auf der Bühne gemeinsam John Lennons Song „Give Peace A Chance“ singen. Mischa Gohlke wird mit anderen Musikern zum Ende des Festes ein Konzert geben.

Wie und wo kann man sich für das Fest beziehungsweise die Läufe anmelden? Was kostet die Teilnahme?

Das inklusive Sportfest hat die eigene Homepage www.norderstedt-sportiv-inklusiv.de. Dort sind alle Informationen zu finden. Auch die Anmeldungen laufen über diese Seite. Die Teilnahme am Kinderrennen ist kostenfrei. Kinder bis 16 Jahre zahlen auch für die anderen Läufe nichts. Für Teilnehmende ab 17 Jahre wird für den Start beim Inklusionslauf, Nordic Walking und beim Team Sprint eine Startgebühr von zehn Euro erhoben. Darin enthalten sind unter anderem eine Medaille und ein Finisher T-Shirt.

Wie finanziert sich Ihr Verein?

Die Begleitung und Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung wird substanziell von der Stadt Norderstedt und Nachbargemeinden finanziell unterstützt. Dennoch sind wir immer wieder auf finanzielle Eigenmittel zur Schaffung und Aufrechterhaltung von Angeboten in den verschiedenen Freizeitgruppen sowie zur Finanzierung von Ausflügen oder Festen angewiesen. Diese Ausgaben können nur zu einem geringen Teil aus den Beiträgen der rund 130 Mitglieder der Lebenshilfe Norderstedt bestritten werden. Aus diesem Grund freuen wir uns über freiwillige Unterstützung von privaten Spendern und Unternehmen. Wer spenden möchte kann dies gerne tun.

Aktuell sind Sie auf der Suche nach Assistentinnen und Assistenten, die auf Honorarbasis Menschen mit Behinderungen bei den Einzel- beziehungsweise Gruppenangeboten begleiten. Welche Voraussetzungen sollten Interessierte mitbringen, und wie können sie sich bewerben?

Wichtig sind Offenheit gegenüber Menschen mit Behinderungen, Teamgeist, Kreativität und Empathie, Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein. Eine pädagogische Ausbildung ist nicht nötig. Unsere AssistentInnen hospitieren zunächst und nehmen regelmäßig an unseren Fortbildungen teil. Interessierte schicken ihren Lebenslauf gern an per Mail an info@lhovn.de.

Abschlussfrage: Wenn Sie gedanklich in die Zukunft schauen, wie werden Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft integriert sein?

Ich wünsche mir, dass man gar nicht mehr über Inklusion spricht, sondern diese lebt. Und sich kein Mensch mehr, ob mit oder ohne Behinderung, am Rande der Gesellschaft fühlen muss, sondern so geschätzt und geliebt wird, wie er ist.