Norderstedt. Die Tennis-Legende spielte vor ihrer Profikarriere ein Turnier in Norderstedt, war HSV-Mitglied. Gegnerinnen und Trainingspartner erinnern sich.
Hätten Sie das Mädchen erkannt? Wohl kaum. Wir auch nicht. Umso größer war das Erstaunen in der Sportredaktion des Hamburger Abendblatts in Norderstedt, als wir bei Recherchen für unsere Serie „50 Jahre Sport in Norderstedt“ auf eine unscheinbare Meldung vom 16. Juli 1979 stießen: „Stephanie Graf siegte – und wie“. Ja, auch wenn der Vorname falsch geschrieben war, es handelte sich definitiv um „die“ Steffi Graf, die als Zehnjährige großen Eindruck hinterließ. Das nahmen wir zum Anlass, um auf Spurensuche zu gehen.
Es beginnt bei der Tennisabteilung des Hamburger SV, die im kommenden Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Bedeutsame Ereignisse fanden an der Ulzburger Straße statt, wobei das ungewöhnlichste den meisten der damaligen Mitglieder vermutlich kaum gegenwärtig gewesen sein dürfte. Nämlich der Auftritt der späteren „Gräfin“ bei einem Nachwuchsturnier des Hamburger Tennis-Verbandes – die gebürtige Mannheimerin, die in Brühl aufgewachsen ist, gewann bei diesem Wettbewerb die Bambina-Klasse. Der zuständige Autor schrieb danach von ihr als der „wohl besten Spielerin der Bambinos“ in Deutschland.
Bei der Zeitungslektüre stößt Thomas Lüllemann auf die im Jahr 2020 ein weiteres Mal veröffentliche Meldung, die nun einen sporthistorischen Wert hat. Der 53-Jährige ist der Bruder von Susann Wohlers, die Mitte Juli im Endspiel der heute 51 Jahre alten Stefanie Graf gegenüberstand. Nichtsahnend erkundigt sich Lüllemann vor ein paar Tagen bei seiner Schwester: „Weißt du, dass du in der Zeitung stehst?“ Die Antwort hatte der Hamburger nicht erwartet. „Ja, ich bin im Bilde“, sagt sie. „Das Abendblatt hat mich angerufen und wollte wissen, ob ich mich an den legendären Tag beim HSV erinnern würde.“ Selbstverständlich tut sie das.
Heute lebt Wohlers mit ihrem Mann und den beiden Kindern Paula (18) und Bosse (15) in Frankfurt/Main. Auf Anfrage des Abendblatts sucht sie im Keller nach Infos und alten Fotos vom HSV-Turnier. Die eingescannten Bilddokumente von der Siegerehrung kommen bereits einen Tag später in unserer Redaktion an. „Steffi Graf, das Tennis-Wunderkind, schlägt Susann Lüllemann im Finale souverän“. So stand es im Bericht. Doch das genaue Ergebnis fehlte.
„War vielleicht auch besser so“, sagt Wohlers. „Bis zum Endspiel hatten wir beide kein Spiel abgegeben, so rechnete ich mir etwas aus. Nach wenigen Ballwechseln war mir dann klar, was mir da blühen würde.“ Ohne Spielgewinn verließ die Schülerin den Platz, aber niedergeschlagen war sie nicht. Ihre Mutter Hildegard reagierte am Rande des Platzes restlos erstaunt: „Eine wie Steffi gehört hier doch gar nicht her. Die ist wie von einem anderen Stern.“
Steffi übernachtet mit dem Vater im Campingwagen
Susann Wohlers, die mehrere Jahre in der Damen-Regionalliga für den HSV antrat, erkannte gegen ihre gleichaltrige Rivalin den entscheidenden Unterschied: „Wir Jugendlichen haben beim HSV meist nur einmal pro Woche trainiert“, erinnert sie sich. „Von Steffi war hingegen bekannt, dass sie bereits mit zehn vom DTB gefördert wurde und schnell in die Weltspitze kommen wollte.“
Der Ehrgeiz der späteren, 22-fachen Grand-Slam-Siegerin und Weltranglistenersten war schon damals groß. Wenn sie – so wie im Finale – trotz klarer Überlegenheit mal einen Ball ins Netz schlug, fing sie an zu meckern. Ihre selbstkritische Ader kam schon damals zum Vorschein. Daran hatte auch ihr 2013 verstorbener Vater Peter Graf seinen Anteil, was der Öffentlichkeit hinlänglich bekannt war. Vater Graf begleitete seine Tochter meist auf Turnierreisen, die eines Tages eben nach Hamburg und Norderstedt führten. Hintergrund: Peter Graf war Autoverkäufer, wollte im Norden Geschäfte machen. Dabei lernte er eines Tages Edwin Liedtke kennen, den früheren Jugendleiter, ohne den die Nachwuchsfestivals der Tennis-Asse auf der HSV-Anlage undenkbar gewesen wären. Liedtke überzeugte die Grafs auch vom HSV-Turnier. Über die Zukunftspläne von Steffi wurde im Familienkreis zu der Zeit Stillschweigen bewahrt. Stattdessen bemühte sich Peter Graf, der Tochter am Rande des Wettbewerbs nicht zu viele Freiheiten zu gestatten. „Wir Mädchen wollten nach dem Match noch ein bisschen zusammensitzen und anschließend gemeinsam ins Palette-Kino gehen“, sagt Susann Wohlers, die das Norderstedter Lessing-Gymnasium besuchte. „Nach dem Match bekam Steffi vom Vater aber keine Erlaubnis dafür.“
An den Turniertagen übernachteten die Grafs übrigens auf dem Parkplatz in einem Campingwagen, mit dem sie quer durch Deutschland tingelten. Was auch kaum jemand wusste: Die beiden Grafs standen jeden Tag schon um 6 Uhr auf, um eine halbe Stunde gemeinsam zu trainieren...
Nach dem Training vergnügte sie sich auf der Schaukel
Vor Beginn des gewonnenen Endspiels hatte sich Peter Graf übrigens Folgendes ausgedacht: Er ging auf HSV-Talent Jens Gustmann zu, der auf dem benachbarten Platz drei spielte. Er bat den damals 13-jährigen Norderstedter Jungen um eine Gefälligkeit. „Könntest du Stefanie mal ein bisschen einschlagen?“, fragte der Vater den verblüfften Youngster, der einen guten, spielstarken Eindruck auf ihn machte, was auch Platzierungen in der Hamburger Rangliste dokumentierten. Gustmann zierte sich zunächst, willigte dann aber ein.
„Nach etwa drei Ballwechseln wurde es eine schweißtreibende Angelegenheit“, blickt Gustmann (heute 53) zurück. „Es war ein einstündiges Intensivtraining, das für mich total spannend war. Mir imponierte, wie zäh und ausdauernd sie mit ihrer schmächtigen Figur auftrat und auf die Bälle einschlug.“ Hinterher aßen die beiden noch ein Eis zusammen, währenddessen tobte Steffi sich ein wenig auf einer Schaukel aus.
Jens Gustmann gilt als HSV-Urgestein, auch wenn er zwischendurch zehn Jahre beim Nachbarn TC Garstedt aufschlug. Er ist mit der Lettin Agnes Gustmane verheiratet (für die Damen 30 des TC an der Schirnau gemeldet). Die beiden haben zwei Kinder. Nach mehrjährigem, beruflich bedingten Aufenthalt in Dubai leben die beiden inzwischen in Bukarest, sind aber immer mal wieder auf Besuch in der Heimat. Bietet sich die Gelegenheit, tritt Gustmann für die Herren 40 des HSV in Punktspielen an.
Kaum jemand im Verein ist über das sportliche Geschehen an der Ulzburger Straße so gut informiert wie Jörg Hilpert (58) – und das seit Jahrzehnten. Der Tenniscoach ist seit knapp 50 Jahren Mitglied. Von 1982 an, also nach Grafs erstem und einzigen Auftritt beim HSV, war er etwa 25 Jahre Trainer, ehe er 1995 am Duvenstedter Eichenhof und 2012 in Ellerbek eine Deutsche Tennisschule ins Leben rief. Und er trainierte auch Susann Wohlers. Zu Stefanie Graf gab es keine direkten Berührungspunkte. Hilpert entdeckte in den Club-Annalen aber: „Sie nahm nur einmal am Bambino-Turnier teil, blieb danach jedoch noch zehn Jahre Mitglied. Dass sie den Verein verließ, ist in der Chronik jedenfalls nicht zu entdecken. Vielleicht hat sie einfach nur vergessen, auszutreten.“
Der Henstedt-Ulzburger war bis Mitte der 90er-Jahre neben Edwin Liedtke Veranstalter stark besetzter Jugend-Meetings (später Sharp-Cup) mit bis zu 600 Jungen und Mädchen aus der ganzen Welt. Er beobachtet, dass es für jüngere Tennissportler unvergesslich ist, wenn sie gegen aufstrebende Cracks antreten, denen ein guter Ruf vorauseilt. „Umgekehrt ist es ja nicht so“, sagt Susann Wohlers. „Steffi dürfte sich in Las Vegas kaum daran erinnern, dass sie vor über 40 Jahren gegen mich gespielt hat.“
Bernd Rodewoldt ist seit 20 Jahren Chef der HSV-Tennisabteilung. Er erlebte die Tage mit Steffi Graf 1979 nicht mit. Präsident war damals Paul-Günter Benthien (80). Rodewoldt würde sich über einen zweiten Besuch der Tennis-Legende 42 Jahre später natürlich freuen: „Wenn Steffi Graf und ihr Ehemann Andre Agassi Zeit haben, sind sie bei unserer Jubiläumsfeier 2021 selbstverständlich herzlich eingeladen.“