Der Norderstedter Fritz Losch, 84, gehörte bei den Sommerspielen in Helsinki von 1952 zu einer Jugend-Delegation und weiß, wie Olympia geht
Norderstedt. Olympia in Hamburg oder Berlin? Wenn Fritz Losch, 84, entscheiden dürfte, welcher deutsche Bewerber ins Rennen um die Sommerspiele 2024 gehen soll, wäre der Fall klar. „Ich drücke Hamburg ganz fest die Daumen“, sagt der Norderstedter, „das Potenzial ist vorhanden. Der Prestigegewinn wäre enorm, und im Bereich der Infrastruktur könnten einige der Pläne für die Zukunft leichter realisiert werden. Ich denke da an den Öffentlichen Nahverkehr und das Brachland in der Hafencity. Außerdem wäre es doch eine tolle Sache, wenn eine solche Veranstaltung direkt vor der Haustür stattfindet.“
Losch weiß aus eigener Erfahrung, welche Strahlkraft Olympische Spiele haben können. Im Sommer 1952 ließ er sich in Helsinki drei Wochen lang von der Atmosphäre in der finnischen Hauptstadt verzaubern. Zwar nicht als Aktiver, aber als einer von 120 Teilnehmern an der deutschen Jugendfahrt für die Jahrgänge 1930 bis 1936.
„Ich war mit Leidenschaft Kunst- und Turmspringer, hatte aber nie Ambitionen, bei Olympischen Spielen zu starten“, sagt er. Dann aber ergab sich unverhofft die Chance, diese in Finnland hautnah zu erleben. „Meine Mutter erfuhr 1951 von einem Wettbewerb des Bundesinnenministeriums, für den ich mich mit 60.000 anderen Jungen und Mädchen anmeldete. Ich war genau im richtigen Alter und fühlte mich trotz eines schweren Trainingsunfalls, bei dem ich mir beide Schultern ausgekugelt hatte, körperlich fit. Also sagte ich mir: Nichts wie ran.“ Die Teilnahmekriterien waren überschaubar. Die Kandidaten mussten das Deutsche Sportabzeichen und den DLRG-Grundschein vorweisen und einen Aufsatz mit dem Thema „Der Olympische Gedanke“ einreichen.
Fritz Losch überstand das erste Auswahlverfahren und gehörte zu den 550 Bewerbern, die im Frühsommer zur Endausscheidung nach Berlin-Spandau fahren durften. „Ich war ein gut ausgebildeter Allroundsportler, das kam mir beim Fünfkampf mit Laufen, Weitsprung, Kugelstoßen, Bodenturnen und Schwimmen zugute.“ Zusätzlich wurden zwei Klausuren geschrieben; wer handwerklich oder musisch begabt war, konnte eine der beiden Arbeiten durch sein Können auf diesen Gebieten ersetzen. Als am nächsten Morgen die Ergebnisse verkündet wurden, konnte der gebürtige Königsberger sein Glück kaum fassen: „Ich war tatsächlich dabei!“
14 Tage später ging es nach der Einkleidung in Flensburg per Bahn und Schiff ins Jugend-Zeltlager auf die Helsinki vorgelagerte Schäreninsel Seurasaari. „Die Zeit im Land der 1000 Seen war für uns alle ein unvergessliches Erlebnis. Wir fühlten uns zwar nicht als Olympioniken, aber irgendwie doch wie eine Schar Auserwählter.“
Fritz Losch, der damals bei der Adam Opel AG in Rüsselsheim zum Betriebselektriker ausgebildet wurde, nutzte neben dem obligatorischen kulturellen Begleitprogramm jede Gelegenheit, um die Wettkämpfe zu verfolgen. Mit dem Wehrmacht-Feldstecher seines Vaters Willy bewaffnet, war er Stammgast im Olympia- und im Schwimmstadion. „Neben der Eröffnungs- und Abschlussfeier habe ich alle Leichtathletikwettbewerbe, den Preis der Nationen im Springreiten, unter anderem mit Fritz Tiedemann und Meteor, sowie zahlreiche Schwimmwettbewerbe und einen Weltrekord im Gewichtheben durch den Mittelschwergewichtler Norbert Schemansky aus den USA gesehen. Tickets waren kein Problem; die wurden morgens an uns verteilt.“
Seine Eindrücke notierte Losch mit der ihm eigenen Akribie vor Ort im Stil eines Sportreporters in sein Tagebuch – unter anderem das 5000-Meter-Rennen mit der „tschechischen Lokomotive“, dem dreifachen Goldmedaillengewinner Emil Zatopek: „Sonnenschein im Olympiastadion… Favoriten sind Herbert Schade, Zatopek und der Belgier Gaston Reiff… Schade führt bis zur vorletzten Runde… Jetzt setzt Zatopek zum Spurt an, der Deutsche kann nicht folgen und muss auch noch den Franzosen Alain Mimoun passieren lassen. Wir sind enttäuscht, freuen uns dann aber doch über die Bronzemedaille. Zatopek gratuliert dem zwei Sekunden langsameren Schade zum guten Rennen, eine feine Geste.“
Noch beeindruckender als das Sportgeschehen war für die deutschen Aktiven und Zuschauer das Flair der Spiele von Helsinki. „Deutschland hatte 1948 in London ja noch zuschauen müssen und gehörte nun erstmals wieder zur weltweiten Sportfamilie. Die Finnen haben die Aktiven aller Nationen und auch uns Jugendliche mit einer unglaublichen Gastfreundschaft und Herzlichkeit empfangen. Das war nur sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine Selbstverständlichkeit. Manchmal mussten wir sogar Autogramme schreiben oder sind auf der Straße spontan zum Kaffeetrinken oder zum Saunabesuch eingeladen worden“, erinnert sich Fritz Losch.
Gern erinnert er sich auch an ein gelungenes Täuschungsmanöver. „Ein Freund und ich wollten außerhalb der Wettkampfzeit unbedingt ins Schwimmstadion und dort den deutschen Star Herbert Klein beobachten. Also haben wir uns unsere Jacken mit dem olympischen Wappen auf der Brust angezogen, eine Badehose um den Hals gehängt und am Eingang behauptet, zum Training zu wollen. Das Vorhaben gelang, wir haben gemeinsam mit den Aktiven tatsächlich einige Bahnen gezogen.“ Klein war zwar nicht dabei. „Dafür stand ich hinterher zusammen mit einem netten Amerikaner unter der Dusche. Wie sich später herausstellte, war dies der Sieger im Turmspringen, Samuel Lee.“
Heute wäre so etwas aufgrund der strengen Sicherheits- und Akkreditierungsvorschriften nicht mehr denkbar. Das ist einer der Gründe, weshalb Fritz Losch die Entwicklung der Olympischen Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg kritisch sieht. „Von der Idee, den Sport zu entpolitisieren und die Leistung eines jeden Einzelnen zu schätzen, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Das Dabeisein ist eben doch nicht alles. Gold, Silber, Bronze und der Medaillenspiegel stehen viel zu sehr im Vordergrund. Fans kommen an ihre Idole doch gar nicht mehr heran, die Eintrittspreise sind viel zu hoch, Kommerz und Gigantomanie gewinnen immer mehr die Oberhand. Und es wird gedopt, um Erfolg zu haben.“
Losch ist aber Realist. „Man kann das Rad der Zeit nicht komplett zurückdrehen. Doch möglicherweise schafft es Hamburg bei einer erfolgreichen Bewerbung ja, finanziell vertretbare Spiele zu präsentieren, ein nachhaltiges Konzept für die Sportstättennutzung auszuarbeiten und den Ideen des Pierre de Coubertin wieder etwas näherzukommen.“