Wahlstedt/Kiel. Landgericht Kiel: Berufungsprozess um Musiker, dem sexuelle Nötigung einer betrunkenen und schlafenden Bandkollegin vorgeworfen wurde.
Vor dem Landgericht in Kiel wurde am Montag der Fall eines Musikers (37) verhandelt, der eine Bandkollegin nach einer Probe vergewaltigt haben soll. Zu getragen hat sich der Vorfall im „Sound-Bunker“, einem Kultur- und Musik-Zentrum in Wahlstedt.
Laut Vorwurf der Kieler Staatsanwaltschaft hatte sich der Angeklagte in der Nacht zum 28. November 2020 nach einer Bandprobe an der Frau vergangen, nachdem zwei weitere Bandmitglieder das Gebäude verlassen hatten. Demnach nutzte der Angeklagte die Hilflosigkeit der alkoholisierten und schlafenden Frau aus.
Gericht Bad Segeberg verurteilte den Mann
Es handelte sich um einen Berufungsprozess. Denn in erster Instanz hatte das Amtsgericht Bad Segeberg den Angeklagten wegen versuchter sexueller Nötigung zu 8400 Euro Geldstrafe (120 Tagessätze á 70 Euro) verurteilt. Der im Therapiebereich berufstätige Mann legte Rechtsmittel ein. Ihm hätte das Urteil den Makel „vorbestraft“ eingebracht. Weitere 1200 Euro sollte er als Schmerzensgeld an die Geschädigte zahlen.
Die 11. Berufungskammer verhandelte den Fall neu. Schnell einigten sich Gericht, Staatsanwalt und Verteidigung auf die Abkürzung des zunächst auf drei Tage angesetzten Prozesses. Nur die als Nebenklägerin beteiligte Geschädigte, eine 32-jährige Sängerin, die auf der Anfahrt im Stau steckenblieb und die Verhandlung komplett verpasste, wollte den Angeklagten nicht mit einer Einstellung des Verfahrens davonkommen lassen. Doch das Landgericht Kiel sah im Segeberger Urteil Rechtsfehler und stellte das Verfahren wegen sexueller Nötigung gegen den Angeklagten gegen die Zahlung von 1200 Euro Schmerzensgeld an das Opfer ein.
Opfer sagt, sie ist schwer traumatisiert
Was war an jenem 28. November vor drei Jahren nach einer Session im Proberaumzentrum „Sound-Bunker“ in Wahlstedt passiert? Wie Opfer-Anwältin Gülbahar Kisin (Neumünster) nach telefonischer Rücksprache mit ihrer Mandantin dem Gericht mitteilte, hat ihr der Vorfall in der Nacht zum 28. November 2020 schwer zugesetzt.
Ihre Mandantin sei nach dem sexuellen Übergriff, den der Verteidiger des Angeklagten lediglich am unteren Rand der Strafbarkeit einordnete, schwer traumatisiert gewesen und bis heute belastet. Durch einen Umzug in den Großraum Berlin habe sie sich dem bedrohlich erscheinenden Umfeld entzogen.
Angeklagter legte sich zur Frau aufs Sofa
Laut Anklage kam es nach einer gemeinsamen Musik-Session im Proberaum zu dem Übergriff, nachdem zwei weitere Bandmitglieder das Gebäude verlassen hatten. Alle Beteiligten seien alkoholisiert gewesen. „Die Geschädigte trank so viel, dass sie sich mehrfach übergeben musste“, heißt es in der Anklage. Danach soll der 37-jährige Angeklagte die Hilflosigkeit der Schlafenden ausgenutzt haben, als er sich auf einem Sofa hinter sie legte und ihr seinen Finger unter den Tangaslip schob.
Laut Urteil des Amtsgerichts vom September 2023 schmiegte sich der Angeklagte von hinten eng an die Schlafende, deren Hose heruntergezogen war. Er soll sein Geschlechtsteil an ihr gerieben haben. „Als sie erwachte“, heißt es im Urteil, „hörte er sofort auf“.
Landgericht sieht Rechtsfehler im Segeberger Urteil
Der Angeklagte räumte im ersten Prozess ein, sich zu der Frau aufs Sofa gelegt zu haben. Er bestritt jedoch jegliche sexuelle Absichten. Im Strafmaß folgte der Amtsrichter dem Antrag des Staatsanwalts. In zweiter Instanz sah der Vorsitzende Gunther Döhring Rechtsfehler im Urteil seines Segeberger Kollegen: „Der Tenor des Urteils ist unzutreffend.“ Von sexueller Nötigung könne mangels Gewalt oder Drohungen keine Rede sein. Es handle sich allenfalls um einen sexuellen Übergriff.
Döhring regte die Einstellung gegen Schmerzensgeld an. Die Geschädigte wurde nach Darstellung ihrer Anwältin aus ihrem damaligen Leben gerissen. Die damals beteiligte Band, sagt der Angeklagte, mache weiterhin Musik: „Es gibt sie noch.“
Kriminalstatistik: 2713 gemeldete Sexualstraftaten in Schleswig-Holstein
Laut polizeilicher Kriminalstatistik war der im Landgericht verhandelte Fall eine von 2713 gemeldeten Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Schleswig-Holstein (2020). 2277 dieser Taten wurden aufgeklärt. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt.
Als Sexualverbrechen wurden in jenem Jahr 327 Fälle von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung eingeordnet, von denen 293 aufgeklärt wurden. Bei diesen schweren und schwersten Taten sind die Opfer laut Statistik zu rund 93 Prozent weiblich, die Täter zu knapp 98 Prozent männlich.