Norderstedt. Was der Zimmerergeselle auf Wanderschaft erlebt hat und wie ihn Freunde und Familie in Norderstedt empfangen haben.
Familie, Freunde, Weggefährten – alle sind gekommen. Und warten. Warten auf Till. An diesem Sonnabendnachmittag wird der 28-jährige Zimmerergeselle seine Wanderschaft mit dem Überqueren des Ortsschilds „Norderstedt“ beenden. Da, wo Familie und Freunde ihn am 6. Oktober 2019 dem Brauch entsprechend zum Abschied über das Ortsschild (Richtung Hasloh) gehoben und seine Reisekameraden auf der anderen Seite in Empfang genommen haben.
Rund vier Jahre sind seitdem vergangen. Der Junge lässt sich Zeit. Weit und breit nix zu sehen von Till und seiner Entourage. Nach zwei Stunden ist es endlich soweit. Laut singend ziehen die Wandergesellen über die Friedrich-Ebert-Straße Richtung Norderstedt. In der rechten Hand den Stenz, den Wanderstock, in der linken ein Bier. Und das wird erst mal in gemütlicher Runde auf dem Feld neben der Straße gezischt. Ein letzter Moment unter sich. So viel Zeit darf doch wohl sein!
Gänsehautmoment: Till ist zurück im Schoß seiner Familie und seiner Freunde
Dann steht die Truppe vor der Stadtgrenze. Bildet eine Stenz-Treppe und lässt den Rückkehrer über das Ortsschild klettern. 105 Kilo Lebendgewicht fallen dahinter zurück in den Schoß von Familie und Freunden, die den Heimkehrer glücklich auffangen.
Die Pfadfinder stimmen ein Lied aus der gemeinsamen Zeit an: „Und ich bin dir immer noch treu. Nur dein liebes Gesicht macht mich zu Hause auf der Welt. Dafür bleib ich hier. Und dafür komm‘ ich wieder…“
Hannelore Suhr drückt ihren Enkel ganz fest an sich
Es wird geherzt, geküsst, geweint, gelacht! Gänsehautmoment – mitten auf der Landstraße! „Ach, Oma, wie schön, dass wir das gemeinsam noch erleben dürfen“, sagt der Enkel und drückt Hannelore Suhr ganz fest an sich. Der 85-Jährigen fehlen vor Rührung die Worte.
Die Kluft-Jacke hat der Heimkehrer längst gegen einen grauen Bademantel getauscht. Sein Lieblingsdress nach Feierabend. So genießt Till das Bad in der Menge. Das wird am Abend, nach zünftigem Rundklatsch um die Regentrude auf dem Norderstedter Marktplatz, auf dem Hof der Großeltern mit 150 Gästen feuchtfröhlich fortgesetzt…
Zwei Tage später auf der Terrasse von Cornelia Suhr im Norderstedter Spreenweg: „Kaffee oder Tee, Muckel?“, ruft Tills Mutter aus der Küche. „Wasser“, antwortet der Sohn. Muckel? Familie, Freunde, die „Pfadis“ – alle nennen ihn so. „Zu hause bin ich einfach Muckel!“, sagt Till. „Und damit wieder angekommen in der Bürgerlichkeit.“
Die nagelneue Kluft kam vom Schneider auf der Veddel
Till trägt T-Shirt. Ganz zivil – das war er das letzte Mal auf der Abschiedsfete am Abend vor der Walz. Da hat er sich unter lautem Gejohle komplett ausgezogen und die Klamotten, so der Brauch, in der Runde versteigert. Um danach in die nagelneue Kluft zu steigen, gefertigt vom Kluft-Schneider auf der Veddel. Dann hätten, so erzählt er, anwesende Gesellen seinen Kopf aufs Holzbrett gelegt und ihm unter Zuführung dreier Oldesloer Korn (zum inneren, äußeren und Ringdesinfizieren) mit Hammer und Nagel einen Ring ins linke Ohr geschlagen. Auch das hat Tradition: Wenn früher ein Geselle während der Walz starb, war das goldene Schmuckstück der Lohn für den Bestatter.
Für den Ohrring hatte sich Annkatrin Hofrichter, Hamburger Zahnärztin und ausgebildete Goldschmiedin, zuvor noch mal an den Goldschmiedetisch gesetzt und einen Omegaschäkel gearbeitet. „Till“, so habe ‚Keddel‘, die er vom Segeln kennt, beim Abschied gesagt: „Immer, wenn dein Ohr juckt, lässt du die Straße Straße sein und gehst ‘ne Runde aufs Wasser.“
Von den Kanaren bis Dänemark: In zehn Ländern war Till unterwegs
Hat er sogar mal gemacht. Ein Weltumsegler nahm ihn und zwei Reisekameraden während der Walz von Teneriffa aus auf seinem Segelboot mit dem bezeichnenden Namen „Auf der faulen Haut“ mit nach Gibraltar. Auf derselbigen lag Till in den vier Jahren Wanderschaft nicht.
Von den Kanaren bis Dänemark – rund zehn Länder hat er in der Zeit, die er durch die Corona-Einschränkungen auf vier Jahre verlängerte, bereist. In zwölf Betrieben gearbeitet. In Dänemark ein Schloss renoviert, in Spanien Fincas gestrichen und alte Kiefernfensterläden restauriert, in der Schweiz Chalets gebaut, in Österreich ein Schlachthaus für einen Biolandwirt…
Reisebündel mit Wechselwäsche, Schlafsack und Stenz
Handwerker auf Wanderschaft, das basiert auf einer 800 Jahre alten Tradition. Schwarze, graue, blaue, grüne, rote Cord-Kluft, Staude (weißes Oberhemd) und weite Schlaghose, Hut mit breiter Krempe oder Zylinder, der „Charlottenburger“, sprich das Reisebündel mit Arbeitskleidung, Wechselwäsche und Schlafsack sowie der Stenz gehören dazu.
Getreu dem Motto ‚nicht reich an Geld, sondern an Erfahrungen zu werden‘, verlassen die Gesellen ihren Wohnsitz mit nur fünf Euro in der Tasche. Um die Welt zu entdecken und ihr Fachkönnen im In- und Ausland zu perfektionieren. Während der Walz dürfen sie sich drei Jahre und einen Tag lang ihrem Heimatort in einem Radius von 50 bis 60 Kilometern nicht nähern. Ungebunden, kinderlos, schuldenfrei und zwischen 18 und 30 Jahre alt sein, den Gesellenbrief haben, kein Mobiltelefon tragen und sich zu Fuß oder per Autostopp von einem Job zum anderen bewegen.
Till hat unterwegs 20 Kilo zugenommen
Till hat sich auf der Walz viel bewegt und trotzdem 20 Kilo zugelegt. „Die Kluft hat am Ende schon ziemlich drall gesessen“, erzählt er, während er ein Stück Käsetorte genießt. Künftig will er nahrungstechnisch kürzertreten. Verspricht’s und erzählt weiter. Von dem Moment, als er in Paris vor der Kathedrale Notre Dame stand, die immer noch unter den schweren Schäden des Großbrands vom April 2019 leidet.
Es juckte ihm und den mitreisenden Wandergesellen in den Fingern. Helfen, den Dachstuhl wieder mit aufzubauen, das wär’s. Doch die Architekten hätten abgewunken. Zimmerer wurden noch nicht gebraucht. So blieb’s bei einer Stippvisite in der Stadt der Liebe, die immerhin mit der Einladung des Pastors von Notre Dame zum Kaffee endete.
Auf der Wanderschaft hat sich Till einmal verlobt
Apropos Liebe – verliebt war der Wandergeselle während der Walz mehrfach, einmal sogar verlobt. Entstanden aus einer Schnapslaune heraus. Nach einem Jahr kam dann die Ernüchterung. Entliebt, entlobt, weitergezogen. Immer wieder auch mal zu Joke Pouliart nach Carolinensiel. Hier betreibt der Tischlermeister seinen Gulfhof Friedrichsgroden. Der ehemalige Bauernhof wird derzeit restauriert und als Bildungsbetrieb im Bereich Wattenmeer Kunst, Kultur und Kulinarik vereinen.
Drei Monate hat Till Suhr bei ihm für Lohn, freie Kost und Logis gearbeitet. Den Schornstein verschindelt, Schafstall und mobile Komposttoilette gebaut. Auch Joke gehörte zum Empfangskomitee am Ortsschild von Norderstedt. Weil er Till sehr schätze: „Geht nicht, gibt’s nicht. Till ist einer, der braucht immer eine Aufgabe. Und dann muss diese auch zu lösen sein.“
Mein Blick fällt auf Tills rechten Unterarm und eines von zehn Tattoos, das er sich während der Walz hat stechen lassen. Darauf ist er besonders stolz, zeigt es doch das Zunftzeichen der Zimmerer. Hat er sich in Dresden tätowieren lassen – und mit (O-Ton) „ehrlich verdientem Geld bezahlt“.
Goldene Handwerksnadel als Erkennungszeichen der Rolandsbrüder
Von der Ehrlichkeit zur Ehrbarkeit. Das ist ein blaues Band, das mit dem obersten Knopf der Staude festgeknöpft wird und an der die goldene Handwerksnadel befestigt ist. Äußeres Erkennungszeichen der Rolandsbrüder, eine der Gesellenvereinigungen (Schächte) von Handwerksgesellen aller Gewerke.
Till ist Rolandsbruder. Andreas auch. Stolz trägt der Zimmerergeselle aus Essen die Ehrbarkeit um den Hals. So sitzt er mit uns am Tisch auf der Terrasse und näht einen Knopf an seine Kluft. Jeder Knopf ist ein Symbol: Die sechs am Jackett verkörpern die Sechs-Tage-Woche, die drei an beiden Ärmeln jeweils die Lehr- und Wanderjahre und die acht an der Weste den Acht-Stunden-Tag.
„Der hat zwar ‘ne große Klappe, hält aber immer, was er verspricht“
Der 23-Jährige hat Till auf dem Weg nach Hause begleitet. Für ihn geht’s morgen weiter auf der Walz. Außer Frage, dass die beiden in Verbindung bleiben. Andreas mag Till. „Der hat zwar ‘ne große Klappe, hält aber immer, was er verspricht“, sagt Andreas und seine blauen Augen blitzen unter dem breitkrempigen Hut.
Und Till hält was aus. Wie im Juli dieses Jahres kurz vor Ende der Walz. Ein Unfall kostete ihn zwei Fingerkuppen. Das war bei Rotenburg an der Fulda, in der Holzbaufirma eines Rolandsbruders. Till wollte mit einer Kreissäge 70 Holzleisten für einen Balkon zuschneiden und rutschte ab. Sechs bis acht Wochen könne er nicht arbeiten, so die Ärzte im Krankenhaus.
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„Drei Tage lang habe ich im Bett gelegen und mich bedauert“, sagt er. Dann habe er den Entschluss gefasst, in Kassel mit der Meisterschule zu beginnen. Ein Viertel hat er in dieser Zeit geschafft.
Till will jetzt eine Familie gründen und die Meisterschule besuchen
„Die vier Jahre auf der Walz haben mich stabiler, stärker und ruhiger gemacht“, sagt Till abschließend. „Ich weiß, dass ich mich immer auf meine Familie und mein Handwerk verlassen kann.“ Als nächstes will er die Meisterschule beenden und sich selbstständig machen, gern in Norderstedt. Er will heiraten und eine Familie gründen. „Dann habe ich endlich eine Schaukel im Garten“, ruft Cornelia Suhr freudestrahlend. Sie weiß: Das wird so kommen. Denn ihr Muckel, der hält, was er verspricht.