Norderstedt. Jeanine Drifte wog 110 Kilo. Sie stellte ihr Leben um – heute hängt ihr Bauch. Mehr als 500 Menschen spendeten für eine OP.

Die Leere, die Jeanine Drifte in sich fühlte, versuchte sie mit Süßigkeiten zu füllen. Unter dem Bett ihres Kinderzimmers versteckte sie tafelweise Schokolade vor ihren Eltern. Die Norderstedterin nahm immer weiter an Gewicht zu. Mit gerade einmal 15 Jahren wog sie bereits 110 Kilogramm.

„Als Kind habe ich nicht hinterfragt, was ich da tue. Das Ausmaß habe ich gar nicht wahrgenommen“, sagt Jeanine Drifte. Sie litt unter der Scheidung ihrer Eltern, schon in der Grundschule wurde sie gemobbt.

Etwas zu essen, tröstete sie. Es fühlte sich wie eine Art Zufluchtsort an. „Erst auf einer Klassenfahrt nach Köln, als ich mir mit acht anderen Mädels ein Zimmer teilte, wurde mir plötzlich klar, dass ich nicht ganz normal bin“, sagt sie.

Norderstedt: Radikal abgenommen – „Ich kämpfe dafür, mich wohlzufühlen“

Die vielen Treppenstufen hoch zur Turmspitze des Kölner Doms waren für sie nicht zu bewältigen. Nach der Hälfte musste sie abbrechen. Zu erschöpft war sie. Ihre Hosen gingen ständig kaputt, weil ihre Oberschenkel aneinander rieben und das Material aufscheuerten. Ihr wurde immer klarer: „Ich muss etwas ändern.“

Sie stellte ihr Leben radikal um, ernährte sich von nun an gesund, machte viel Sport. Innerhalb eines Jahres verlor sie 35 Kilogramm. „Ich war glücklich, ich hatte so hart dafür gearbeitet. Seit ich 15 Jahre alt bin, kämpfe ich dafür, mich in in meinem Körper wohlzufühlen“, sagt die heute 20-Jährige.

130.000 Follower verfolgen Jeanine Driftes Weg bei TikTok

Doch Jeanine Drifte entwickelte erneut ein ungesundes Verhältnis zum Essen – diesmal verfiel sie in das andere Extrem. Es gab Tage, da aß sie gar nichts. Wenn sie doch einmal schwach geworden war und etwas Ungesundes zu sich genommen hatte, spuckte sie anschließend auf der Toilette alles wieder aus. Auch so konnte es nicht weitergehen. Sie suchte sich Hilfe bei einer Ärztin, die ihr empfahl, eine Pause vom Abnehmen einzulegen.

Mit 15 Jahren (rechts) wog Jeanine Drifte aus Norderstedt noch 110 Kilogramm – inzwischen hat sie 40 Kilo abgenommen.
Mit 15 Jahren (rechts) wog Jeanine Drifte aus Norderstedt noch 110 Kilogramm – inzwischen hat sie 40 Kilo abgenommen. © Privat | Jeanine Drifte

Mit 17 setzte sie dann ihren Weg fort und fing an, ihr Leben in den sozialen Medien zu teilen. Bei TikTok verfolgen mittlerweile mehr als 130.000 Menschen, was die junge Frau zum Thema gesunde Ernährung und Gewichtsverlust postet.

Fünf weitere Kilos purzelten in dieser Zeit – doch dann passierte nichts mehr. Obwohl sie im vergangenen Jahr jede Woche ins Fitnessstudio ging, stagnierte ihr Gewicht. Die Form ihrer Oberschenkel veränderte sich kein bisschen. Am schlimmsten war für sie aber der Anblick ihres Bauches: Da sie 40 Kilogramm abgenommen hatte, hing ihre überdehnte Haut herunter.

Arzt diagnostiziert Fettverteilungsstörung bei junger Norderstedterin

Anfang Dezember diagnostizierte ein Arzt dann eine Fettverteilungsstörung bei ihr. Das bedeutet: „Ich konnte mich noch so sehr anstrengen und Sport machen – an meinen Beinen hat sich einfach nichts verändert“, erklärt Jeanine Drifte.

Bei der sogenannten Lipohypertrophie handelt es sich um eine Vermehrung des Unterhautfettgewebes. Das Fett sammelt sich verstärkt an Armen oder Beinen. Im Gegensatz zum Lipödem verursacht Lipohypertrophie aber keine Schmerzen.

Die Diagnose war eine Erleichterung – und ein Schlag ins Gesicht

Die Diagnose fühlte sich für die junge Frau wie eine Erleichterung und ein Schlag ins Gesicht zugleich an. „Ich wusste zwar, dass es nicht meine Schuld war – aber was sollte ich nun tun?“

Sie begann, ihr Leid bei TikTok und Instagram zu teilen. Irgendwann traute sie sich, Fotos und Videos von der überschüssigen Haut an ihrem Bauch zu zeigen. „Ich habe gemerkt: Ich muss mich dafür nicht schämen. Ich bin trotzdem schön.“

Die 20-jährige Jeanine Drifte leidet unter der überschüssigen Haut an ihrem Bauch.
Die 20-jährige Jeanine Drifte leidet unter der überschüssigen Haut an ihrem Bauch. © Privat | Jeanine Drifte

Dennoch: Ihre Psyche leidet so sehr unter dem Körper, in dem sie sich nicht zu Hause fühlt, dass der Wunsch, ein Leben ohne Hautlappen und kräftige Oberschenkel zu führen, immer stärker wird. Doch eine Operation, bei der die Haut entfernt und Fett abgesaugt wird, kostet fast 10.000 Euro.

Jeanine Drifte, die als Verkäuferin im Einzelhandel arbeitet, hat etwas Geld zur Seite gelegt – aber das reicht nicht. Ihre Krankenkasse übernimmt die Kosten nicht. Zwar verursacht die Situation seelische Schmerzen bei ihr – aber keine körperlichen.

Laut GKV-Spitzenverband zahlt die Kasse erst bei einem schwerwiegenderen Stadium, vorausgesetzt, eine konservative Therapie mit Kompressionsstrümpfen und Lymphdrainagen hat keine Linderung gebracht.

Norderstedt: Mehr als 500 Menschen Spenden für Operation

Anfang Februar kam sie dann auf eine Idee: Sie startete einen Spendenaufruf bei der Crowdfunding-Plattform „GoFundMe“. Mehr als 500 Menschen bewegte das Schicksal der Norderstedterin so sehr, dass sie nach nur einer Woche bereits knapp 5500 Euro für sie spendeten. „Damit hatte ich nie gerechnet. Ich habe es noch gar nicht richtig realisiert“, sagt sie.

Doch in den sozialen Netzwerken erhielt sie nicht nur ermutigendes Feedback, sondern auch viele hetzerische Nachrichten. „Sie schrieben mir, dass ich nicht so viel fressen solle und ja auch genügend Geld für Essen gehabt hätte. Das war schon verletzend.“ Jeanine Drifte legte daraufhin erst einmal eine Social-Media-Pause ein.

Experte: „Unter Bauchlappen können sich Pilze und Infektionen bilden“

„Man kann der jungen Frau nur gratulieren, dass sie es ohne chirurgische Hilfe geschafft hat, so viel abzunehmen“, sagt Dr. Thomas Mansfeld, Chefarzt der Abteilung für Allgemein-, Gefäß- und Viszeralchirurgie am Asklepios Westklinikum Hamburg.

Mehr als 1000 Patienten suchen jedes Jahr das dortige Adipositas-Zentrum auf. Mansfeld führt chirurgische Eingriffe bei Menschen mit starkem Übergewicht durch und nimmt unter anderem Magenbypassoperationen vor.

Dr. Thomas Mansfeld ist Chefarzt der Abteilung für Allgemein-, Gefäß- und Viszeralchirurgie am Asklepios Westklinikum Hamburg.
Dr. Thomas Mansfeld ist Chefarzt der Abteilung für Allgemein-, Gefäß- und Viszeralchirurgie am Asklepios Westklinikum Hamburg. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES

„Unter Bauchlappen können sich Pilze und Infektionen bilden“, warnt der Chefarzt. „Wenn bei einem Menschen der Tiefpunkt des Gewichtsverlusts erreicht ist und es nicht mehr weitergeht, wird seine Haut geprüft. Ungefähr die Hälfte braucht eine OP.“

Plastischer Chirurg rät, sich genau mit Folgen einer OP auseinanderzusetzen

Dr. Jörg Elsner, plastischer und ästhetischer Chirurg bei den Asklepios Kliniken, mahnt eindringlich, sich eine Operation gut zu überlegen. „Jede OP ist ein Eingriff, der Vor- und Nachteile mit sich bringen kann. Manche Patienten haben eine illusorische Erwartungshaltung. Ihnen muss klar sein, was sie anschließend wirklich erwartet“, sagt er.

Drei bis vier Stunden dauere eine Straffung der Bauchdecke. „Manchmal schneiden wir drei bis vier Kilogramm Haut weg. Die 30 Zentimeter lange Narbe, die dabei entsteht, kann man nicht einfach unsichtbar machen, auch wenn Unterwäsche sie verbirgt.“

Wenn einem dies bewusst ist, „kann eine Operation sehr viel Lebensqualität zurückgeben“, sagt Elsner. Die Masse seiner Patienten ist zwischen 35 und 55 Jahren alt. Auch junge Menschen kommen immer wieder zu ihm.

Ihnen sollte klar sein: „Je jünger sie anfangen, desto mehr OPs brauchen sie in ihrem Leben.“ Überdehnte und geschädigte Haut altere schneller. Und nach einer OP seien weitere Nachstraffungen erforderlich. Elsner: „Der Alterungsprozess wird durch solche Eingriffe nicht aufgehalten.“

Das sagt ein Kinder- und Jugendpsychotherapeut

Michael Schroiff ist Ansprechpartner für die Landesgruppe Hamburg und Schleswig-Holstein des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (bkj). Er hat eine Praxis in Hamburg und hat mit vielen jungen Menschen zu tun, die ein Problem mit ihrem eigenen Körperbild haben und dadurch Essstörungen entwickeln.

„Wir Menschen neigen generell dazu, uns perfektionieren zu wollen“, sagt Schroiff. Der Körper spiele dabei eine besonders wichtige Rolle, weil er „Bestandteil der eigenen Identität“ sei. Auch der Kinder- und Jugendpsychotherapeut rät: „Es ist ganz wichtig, sich mit den Folgen einer Operation auseinanderzusetzen. Entstehen durch sie noch mehr Einschränkungen oder überwiegt der Nutzen?“

Norderstedt: Den Termin für ihre OP hat Jeanine Drifte bereits vereinbart

Jeanine Drifte ist sich sicher, dass sich ihr Leben positiv verändern wird. Sie will das Risiko einer OP eingehen, weil sie durch ihre Erkrankung keinen anderen Ausweg sieht. Einen Termin in einer Klinik hat sie bereits vereinbart. „Mein Wunsch ist es, im Sommer zum ersten Mal selbstbewusst und mit einem guten Gefühl einen Bikini tragen zu können“, sagt sie.