Norderstedt. Kontakte knüpfen, auf andere Gedanken kommen – wie ein Norderstedter Sportverein Integrationsarbeit leistet.

Alles ist neu, alles ist fremd. Und die Sprache? Ein riesiges Hindernis. Menschen aus anderen Ländern haben es oft nicht leicht, in Deutschland anzukommen. Das gilt aktuell auch für viele Geflüchtete aus der Ukraine, die in Norderstedt und Umgebung eine Bleibe gefunden haben. Was hilft ihnen dabei, sich zurechtzufinden, erste Kontakte zu knüpfen? Eine wichtige, oft unterschätzte Rolle spielt hier der Sport. Denn die Sprache ist keine große Barriere, im Vordergrund stehen der Spaß und das Miteinander.

Mehrere Vereine im Kreis Segeberg ermöglichen es Geflüchteten derzeit, kostenlos und unbürokratisch bei Kursen mitzumachen. Ein hervorstechendes Beispiel ist Turn- und Rasensport (TuRa) Harksheide. Der Verein, der mit rund 4000 Mitgliedern und 30 Abteilungen zu den größten in Schleswig-Holstein gehört, lädt auf seiner Webseite Geflüchtete dazu ein, in die Sportkurse zu kommen – auf Deutsch und Ukrainisch. „Es soll keine Hürde geben, mit dem Sport anzufangen. Deshalb haben wir beschlossen, die Kurse für Menschen in Not zu öffnen“, sagt Petra Hoff, Inklusionsbeauftragte des Vereins.

Das Angebot gelte ausdrücklich nicht nur für Menschen aus der Ukraine, sondern beispielsweise auch für solche, die aus afrikanischen Ländern kommen. Diese können erst einmal, ohne Anmeldung und kostenlos, bei den Sportkursen vorbeikommen und einfach mitmachen. Petra Hoff spricht von einer „längeren Schnupperphase“, die gelte, bis „die Menschen in allen Lebenslagen angekommen sind.“ Geflüchtete aus der Ukraine machten aktuell unter anderem beim Fußball, beim Basketball, bei der Fitness-Gymnastik und beim Eltern-Kinder-Turnen mit.

Deutsche und ukrainische Kinder machen zusammen Judo

Und beim Judo. Ortstermin in der neuen TuRa-Sporthalle an der Straße Am Exerzierplatz. Es ist Freitagnachmittag, Licht scheint durch die Fenster des hellen Gebäudes. Trainer Frederic Neumeister, der einen blauen Judo-Anzug trägt, steht in dem mit Matten ausgelegten Raum, er ist umringt von einer Schar von etwa 20 Kindern im Alter von sechs bis 12 Jahren, die gerade mit dem Judo anfangen. Neumeister zur Seite steht eine junge Frau, die Deutsch und Ukrainisch spricht und übersetzen kann. Vieles ist allerdings recht selbsterklärend: Neumeister macht Übungen vor, hüpft auf allen Vieren über die Matten, mal wie ein Bär, mal eher wie eine Schildkröte, dann wieder auf zwei Beinen mit einer nicht ganz einfachen Schrittfolge, die Kinder sollen es im gleichtun. Die sind dann gleich mit Eifer und Spaß bei der Sache. Ein deutsch-ukrainisches Stimmengewirr erfüllt den Raum, es wird gehüpft, getobt. Fröhliche Kinder, die Sport machen, eben.

„Am Anfang waren viele noch schüchtern. Aber das ist bei allen Kindern so, egal, woher sie kommen. Jetzt wachsen die zu einer Gruppe zusammen“, sagt Frederic Neumeister. Gut ein Drittel der Kinder komme aus der Ukraine. Sie wohnen laut Neumeister in Notunterkünften, trainieren in Anzügen, die gespendet wurden. Aber sie knüpfen auch schon erste Kontakte zu den deutschsprachigen Kindern, wie er sagt. „Die kommunizieren mit Händen und Füßen. Aber das klappt.“

Frederic Neumeister ist 35 Jahre alt, lebt in Quickborn und ist beruflich als kaufmännischer Angestellter tätig. Gemeinsam mit seiner Frau Anna, die als Kind aus der Ukraine nach Deutschland kam, kümmert er sich auch privat um Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten mussten. Er weiß daher gut, wie schwierig es für diese Menschen ist, den Alltag in Deutschland zu organisieren. Neumeister: „Das Haupthindernis ist ganz eindeutig die Sprache. Fast keiner kann Deutsch und viele auch kein Englisch.“ Anders sei das beim Sport: „Da ist die Sprache eben nicht so wichtig. Ganz vieles ist Vormachen, Nachmachen und einfach Fühlen.“

Norderstedter Integrationsbeauftragte: Sport „wesentlicher Integrationsfaktor“

Ganz ähnlich sieht es Petra Hoff, die auch in der Inklusionsagentur Norderstedt arbeitet. „Sport ist auf jeden Fall besonders barrierefrei.“ Zum einen falle es nicht besonders ins Gewicht, wenn jemand die Sprache nicht so gut oder gar nicht spricht. Zum anderen gebe es auch „viel weniger Pflichten, viel weniger Leistungsdruck“ als in anderen Lebensbereichen. Das gelte auch und gerade für den Alltag von Geflüchteten, die eben - etwa bei der Wohnungs- und Jobsuche oder beim Spracherwerb - große Anstrengungen unternehmen müssen. Sport hingegen könne gerade Kindern und Jugendlichen Erfolgserlebnisse verschaffen, sie könnten auf diese Weise auch neue Freunde kennenlernen, über die Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. Das hätten auch frühere Erfahrungen mit Geflüchteten gezeigt, etwa in den Jahren nach 2015. Sport habe schon ganz am Anfang eine positive Wirkung: „Er zeigt einfach, dass es trotz allem noch schöne Erlebnisse gibt, bietet Ablenkung und ein Stück Normalität. Nicht zuletzt hilft Bewegung auch dabei, bestimmte Geschehnisse zu verarbeiten.“

Auch Heide Kröger, Integrationsbeauftragte der Stadt Norderstedt, bezeichnet Sport als „wesentlichen Integrationsfaktor in allen Migrationsphasen“. Gerade am Anfang sei dieser eine „grandiose Möglichkeit, Erstkontakte zu knüpfen.“ Anders als in machen anderen Situationen, in denen Geflüchtete mit anderen Personengruppen zusammentreffen, gebe es selten „verlegene Momente“, Sport könne „gleich mitreißen“. Wer auf diese Weise in einer Gruppe ankomme und sich dort zu Hause fühle, habe eine zusätzliche Motivation, Deutsch zu lernen. Sport sei außerdem für Kinder und Jugendliche, die mit ihren Familien flüchten mussten, gut geeignet, „Regeln und Fairness zu leben“ und dabei Stress und Spannungen abzubauen.

Dem sechs Jahre alten Dmitri gefällt es beim Judo - und auch in der Schule

Viel Lob für den Sport also, von Expertinnenseite. Und wie sehen es die jungen Menschen, von denen hier die Rede ist? „Das macht hier viel Spaß“, sagt der sechs Jahre alte Dmitri, der einmal in der Woche bei Frederic Neumeister Judo macht. Dmitri wirkt fröhlich und sehr lebendig, etwas Deutsch kann er auch schon - das hat er in der Grundschule Falkenberg gelernt, wo er eine sogenannte DaZ-Klasse besucht - die Abkürzung steht für „Deutsch als Zweitsprache“. Zusammen mit seiner Mutter und seiner Großmutter ist er aus der Ukraine gekommen, wohnt in Norderstedt in einer Notunterkunft. Und schon bald nachdem er mit dem Reporter ein paar Worte gewechselt hat, ist er auch schon wieder in der Judo-Halle, wo es weitergeht.

„Für den Jungen ist das hier genau das Richtige. Er kann hier kommunizieren, es baut den Stress ab und er lernt auch ein bisschen Disziplin beim Judo“, sagt Dmitris Mutter Olena Makarchuk. Die 38-Jährige arbeitete zu Hause, in dem Ort Korosten, gelegen 150 Kilometer westlich von Kiew, als Geologin. Und dann musste sie plötzlich flüchten. Was das Schwierigste in ihrem neuen Alltag in Norderstedt sei? „Die Sprache!“, sagt sie. Und auch die Sache mit den vielen Dokumenten, den vielen Formalien in Deutschland, sei nicht so einfach. Sie sehnt sich nach ihrem Leben zu Hause, betont aber auch: „Dmitri geht es hier gut, er findet das Leben hier schön.“ Auch in der Schule sei er gut angekommen, gehe gerne in die Nachmittagsbetreuung. Aber Judo sei noch etwas Besonderes, „er kann es immer gar nicht abwarten, bis es wieder Freitag ist!“, sagt Olena Makarchuk und lacht.

TuRa Harksheide sucht zusätzliche Übungsleiter

Das sehen offenbar viele Kinder so. Denn die Trainingsgruppe von Frederic Neumeister wird immer größer. „Vor dem Ukraine-Krieg waren es vier bis sechs Kinder. Jetzt sind es etwa 20.“ Dabei seien es gar nicht unbedingt nur ukrainische Kinder, die kämen, sondern Kinder „aus allen Bereichen“. Die fühlten sich einfach davon angezogen, dass beim Judo „jetzt so viel los sei“. Das sei für alle ein Gewinn: „Sport macht in einer großen Gruppe immer mehr Spaß“, sagt Frederic Neumeister.

So sieht es auch Petra Hoff, die es gerne sieht, wenn der Verein einen Beitrag leisten kann, Menschen in schwierigen Situationen das Leben etwas zu erleichtern. Zusätzliche Helfer, die Kenntnisse in einer Sportart haben, sind dabei gerne gesehen: „Die Anzahl der Übungsleiter ist ein Nadelöhr für uns. Wer Interesse hat, sich als Übungsleiter in einer Sparte einzubringen, darf sich gerne bei uns melden!“, sagt Petra Hoff. Eine Lizenz brauche man dazu nicht unbedingt, „die kann man nachholen.“