Norderstedt. Stadtwerke wollen langfristig Fernwärme dekarbonisieren. Künftige Wohngebiete im Mittelpunkt. Verbraucher könnten auf Sicht profitieren.

Seit knapp zwei Wochen ist die Marommer Straße inNorderstedt zwischen Aurikelstieg und Coppernicusstraße in westlicher Richtung gesperrt. Mittlerweile ist schweres Gerät angerückt, der Asphalt ist aufgerissen. Im Auftrag der Stadtwerke werden neue Fernwärmeleitungen verlegt – die alten verlaufen zu nah an den Wohnhäusern, sodass es eine parallele Trasse gibt. Tim Storbeck leitet bei dem kommunalen Versorger den Fachbereich für Gas, Wasser und Wärme. Vor Ort erklärt der Experte, welche Bedeutung das Bauvorhaben in Garstedt für die langfristige Strategie der Stadtwerke hat. Zunächst einmal, so Storbeck: „Es ist kein Neubau, sondern eine Sanierung. Es ist eine unserer ältesten Leitungen. Die ist bestimmt 60 Jahre alt.“

„Es ist der Grundstein für unsere zukünftige Energieversorgung“

Also älter als Norderstedt. Die Gefahr eines Rohrbruchs soll dadurch gebannt sein, Wärmeverluste minimiert. „Wir legen aber auch schon den Grundstein in den Aurikelstieg.“ Denn hier plant die Stadt mittelfristig den Bau einer neuen Offenen Ganztagsgrundschule sowie einer Kindertagesstätte. „Für den Neubau wollen wir die Fernwärme errichten. Das wird wahrscheinlich im nächsten Jahr passieren. Es ist der Grundstein für unsere zukünftige Energieversorgung. Wärmenetze werden wichtiger denn je. Wir haben zum Glück vor den aktuellen Ereignissen (der Ukraine-Krieg; d. Red.) schon angefangen, Konzepte zu erarbeiten, wie wir die Fernwärme dekarbonisieren können. Weg vom Erdgas, hin zu einem sehr vielschichtigen System, nicht nur auf einem Energieträger basierend, sondern in Richtung der erneuerbaren Wärme – gestützt auf Solarthermie, Geothermie, Luftwärmepumpen. Also Umweltwärme einzusammeln. Und auch industrielle Abwärme wird ein Bestandteil sein.“

Neuer Zweck für die Norderstedter Blockheizkraftwerke

Hierfür hatten die Stadtwerke Studien in Auftrag gegeben, die nun so gut wie abgeschlossen sind. „Wir fangen in nächster Zeit an, sie umzusetzen.“ Und was wird dann aus dem Netz der 13 Blockheizkraftwerke? Diese seien dann keinesfalls überflüssig, betont Storbeck. „Auch zukünftig sind wir der Meinung, dass die BHKW weiterhin wichtig sind. Sie werden aber eine ganz andere Betriebsweise haben. Aktuell laufen sie 5000 bis 7000 Stunden im Jahr, also fast durchgehend. Zukünftig wird einen Wandel geben, sie werden nur noch 1000 bis 2000 Stunden im Jahr laufen. Zu Spitzenzeiten, bei bedeckten Tagen, wenn kein Wind vorhanden ist, um das Stromnetz zu stützen als Reserve-Kraftwerke. „Ob es dann noch das klassische Erdgas sein wird, werden die nächsten Zeiten zeigen. Wasserstoff ist in aller Munde, Biogas ist eine Möglichkeit.“

Theoretisch könne man die Blockheizkraftwerke schon heute auf Biogas umstellen – aber auch dieses sei sehr gefragt und nur begrenzt verfügbar. Und auch hier bestehen Unterschiede: Ist es Biogas, das durch großflächig angebauten Mais erzeugt wird, ober aber in großen Kompostierungsanlagen? „Es besteht jetzt schon an einigen Standorten die Möglichkeit, aus Strom Wärme zu erzeugen“, sagt Tim Storbeck. Das älteste BHKW in Norderstedt wird seit 1983 am Sitz der Stadtwerke betrieben, es war damals ein Novum in Deutschland. Das zweite entstand am Arriba. Seit 2007/2008 wurde der Ausbau forciert.

Dass für Alternativen wie Geothermie und Solarthermie Flächen gefunden werden müssen, ist klar. „Das muss in die Stadtplanung integriert werden“, so Storbeck. „Gerade für Solarthermie – bei Geothermie gehen wir eher in die Tiefe, aber wir brauchen auch eine Energiezentrale. Aber das funktioniert nur, wenn wir Hand in Hand zusammenarbeiten, denn die Flächen sind überall begehrt für Wohnbebauung, Naherholung, aber eben genauso für Energieanlagen.“

Neue Wohngebiete in Norderstedt sollen Vorbild-Projekte sein

Die großen Rahmenplanverfahren für Tausende Menschen – Grüne Heyde, Harkshörner Weg im Norden, Sieben Eichen und am Hummelsbütteler Steindamm im Süden der Stadt – stehen hier im Fokus. Kürzlich beriet auch der Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr hierüber. Die Stadtwerke präsentierten ihr Konzept für das Quartier Sieben Eichen am Glashütter Damm. Hier soll jedes Gebäude mittels einer dezentralen Luftwärmepumpe versorgt werden. Eine Modellrechnung für Solarthermie ergab: 1000 Quadratmeter Kollektoren auf Freiflächen, 1280 auf Dächern, 400 auf Quartiersgagen. In Summe wäre eine Jahreserzeugung von 1,34 Gigawattstunden möglich.

Und natürlich könne die Stromversorgung durch Photovoltaik auf den Dächern – Stichwort „Mieterstrom“ – ergänzt werden, womit dann direkt Wärmepumpen oder Ladestellen versorgt würden. „Durch Versorgung in dem Gebiet und den Anschluss ans Fernwärmenetz können wir gesamtheitlich profitieren.“ Die Energiekonzepte werden also von Politik, der Stadtplanung im Rathaus und den Stadtwerken zusammen erarbeitet. „Aber wir suchen im gesamten Stadtgebiet weiter nach Flächen“, so Tim Storbeck.

Das klingt ambitioniert. „Aber wir müssen es umsetzen. Seit Ende Dezember gibt es das neue Energiewendegesetz in Schleswig-Holstein, da sind klare Ziele vorgegeben.“ Diese besagen: bis 2030 65 Prozent weniger Emissionen von Treibhausgasen im Vergleich zu 1990, bis 2040 mindestens 88 Prozent, bis 2045 dann die Neutralität. „Aber das Gesetz gibt auch relativ gute Handlungsmöglichkeiten mit. Hier kommt unser Fernwärmenetz ins Spiel. Wir haben eine super Grundlage. Wir können zentrale Maßnahmen umsetzen.“

„Unabhängigkeit von Energiekosten ist möglich“

Wäre das dann langfristig günstiger, werden sich alle Verbraucher fragen. „Im ersten Schritt müssen die Kosten, wie sie jetzt sind, bestehen bleiben. Aber langfristig, mit Solarthermie, ist eine Unabhängigkeit von den Energiekosten möglich, oder wir haben nicht mehr diese Schwankungen. Denn wenn wir von Geothermie und Wärmepumpen sprechen, haben wir immer noch die Abhängigkeit vom Strompreis. Deswegen versuchen wir, uns breit aufzustellen und verschiedene Technologien zu haben.“

Seit Sommer 2021 werden in der Heidbergstraße neue Fernwärmeleitungen verlegt. Laut Stadtwerken ist die Maßnahme bald abgeschlossen.
Seit Sommer 2021 werden in der Heidbergstraße neue Fernwärmeleitungen verlegt. Laut Stadtwerken ist die Maßnahme bald abgeschlossen. © Christopher Herbst | Christopher Herbst

Was also deutsche Staatsräson ist, wird hier angegangen. „Energiewende ist nicht nur eine Wende“, ergänzt Stadtwerkesprecher Oliver Weiß. „Es ist auch die Mobilitätswende. Und die Wärmewende sind ein zentrales Thema. Deswegen gilt, und in Hamburg ist es schon Pflicht, dass man in Schleswig-Holstein ab dem 1. Juli, wenn man einen Heizkessel austauscht, mit 15 Prozent erneuerbaren Energien ergänzen muss.“ Die Landesregierung hatte vorgerechnet, dass so bei jedem zweiten Haushalt die Umstellung besser geplant werden könne. „Auch da steckt der Ansatz dahinter, Wärme nicht mehr aus fossilen Energieträgern zu erzeugen.“ Und da kommen, so Storbeck, das Fernwärmenetz – übrigens rund 70 Kilometer – und die Blockheizkraftwerke ins Spiel. „Wir haben überall Energiezentralen. Ein Punkt der Studie war, wo wir das verknüpfen können. Die ausgebaute Infrastruktur ist schon jetzt ein Riesenvorteil für uns.“

Heidbergstraße bald wieder voll befahrbar

Ende Juli sollen die Arbeiten entlang der Marommer Straße abgeschlossen sein. Ein weiteres Großprojekt steht in Friedrichsgabe an, „die genaue Trasse suchen wir noch“. Und auch die Heidbergstraße in Norderstedt-Mitte ist ja immer noch gesperrt, sie soll „in absehbarer Zeit“ wieder voll nutzbar sein. „In der nächsten Woche wird der Graben verschlossen.“ Hier entsteht ein Verbindungspunkt im Fernwärmenetz. „Und wir werden zukünftig in Absprache mit der Wohnungswirtschaft genau die Gebiete erschließen, in denen eine hohe Energiedichte ist, um über unsere Umstellung auf grüne Energie die ganzen Gebäude zu dekarbonisieren.“