Bad Segeberg. Zwei Hobby-Historiker haben den Leidensweg einer der ehemals reichsten Familien der Stadt recherchiert.
Nicht jeder, der die Galerie Peters in der Kurhausstraße in der Segeberger Innenstadt betritt, achtet auf die quadratischen Stolpersteine, die dort genau vor dem Eingang in den Boden eingelassen sind. Wer aber den Blick auf den Boden richtet, wird nachdenklich: Mit wenigen Worten wird das Schicksale einer Familie nachgezeichnet, die hier einst gelebt und gearbeitet hat. Elf Stolpersteine erinnern an den Lebensweg der jüdischen Familie Levy, der in der Kurhausstraße 9 seinen Anfang genommen hat und für einige in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten endete. Andere strandeten irgendwo in der Welt, wo sie schließlich fern der Heimat starben.
Ex-Lehrer hat die Nazi-Zeit in Bad Segeberg aufgearbeitet
Johanna Levy, geborene Wolf, flüchtete 1938 nach Holland, überlebte versteckt. Frieda Levy (Jahrgang 1898), 1942 deportiert, ermordet in Auschwitz. Ernst David Levy (1905), deportiert 1943, ermordet in Sobibor. Ella Levy (1898), deportiert 1942, ermordet in Auschwitz. Hedwig Levy (1895), geborene Rosenmann, deportiert 1942, aus Theresienstadt befreit. Ludwig Levy (1889), interniert in Amsterdam, deportiert nach Theresienstadt, ermordet in Auschwitz. Martin Levy (1901), 1939 Flucht nach Shanghai. Toni Levy (1890), Flucht nach Holland 1938, seit 1943 versteckt überlebt. Erna Levy (1892), verheiratete Zinader, 1938 Flucht nach Holland, mit Hilfe überlebt. Richard Levy (1903), 1938 Flucht in die USA. Alice Levy (1900), 1938 Flucht in die USA.
„Die Häuser, die einst der Familie Levy gehörten, sind heute in den Segeberger Alltag integriert“, sagt Axel Winkler (66), der einen Großteil seiner Freizeit der Geschichtsforschung widmet. Der frühere Lehrer hat zusammen mit Hans-Werner Baurycza die Zeit des Nationalsozialismus in Bad Segeberg akribisch aufgearbeitet. Die Geschichte der Segeberger Juden und ihr Schicksal ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, ist dabei zu so etwas wie einer Herzensangelegenheit der beiden Geschichtsforscher geworden. Mit Ausstellungen und Publikationen haben sich Winkler und Baurycza an die Öffentlichkeit gewandt.
Axel Winkler zeigt auf die beiden Gebäude, die mitten in Segebergs belebter Innenstadt stehen. Passanten, einheimische und Touristen gehen achtlos vorbei, weil sie natürlich nicht wissen, welche geschichtliche Bedeutung sie für die Kreisstadt haben. Im linken Gebäude ist eine Galerie untergebracht, im Gebäude rechts daneben eine Apotheke. Nichts erinnert mehr an die Familie, die hier einst zu Hause war.
Beide Häuser gehörten dem Ehepaar Adolf und Johanna Levy, die vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert zu den reichsten Geschäftsleuten von Bad Segeberg gehörten.
Vor dem Ersten Weltkrieg konnte sich das Ehepaar zwei Häuser in der damaligen Kieler Straße (heute: Kurhausstraße) leisten: Im Haus Nummer neun bot Adolf Levy selbst Möbel und Bekleidung an, das Haus Nummer sieben vermietete er an andere Geschäftsleute. Zum Beispiel an einen Fahrradhändler.
Die Levys gehörten zum Segeberger „Adel“. Ihr Wort hatte Gewicht, ihr Einfluss war nicht gering. Aber das Unheil nahm seinen Lauf und begann auf der andere Straßenseite: 1930 eröffnete die NSDAP genau gegenüber von Levys Haus eine Geschäftsstelle. Die Nazis begannen, die Familie zu drangsalieren. 1934 verkaufte Adolf Levy unter Druck sein Haus und zog ins vermeintlich sichere Hamburg, wo seine Frau Johanna eine kleine Pension eröffnete. Er selbst starb 1937.
Am Schicksal der Segeberger Familie Levy lässt sich aufzeigen, wie die Nazis damals zu Werke gegangen sind. Es begann im Kleinen und endete mit Vertreibung und Massenvernichtung. Ermordet, in der ganzen Welt verstreut, Verzweiflung und Tod - Geschichten wie die dieser Familie verdeutlichen das Ausmaß des NS-Martyriums.
Es ist vor allem dem pensionierten Lehrer Axel Winkler zu verdanken, dass die Levys heute nicht vergessen sind. In unermüdlicher Kleinarbeit setzte er die Puzzleteile zusammen, um am Ende eine große und berührende Lebensgeschichte zusammenzutragen.
Das Schicksal der Levys war in Bad Segeberg durchaus bekannt. Was aber tatsächlich passierte und wie sich der Nazi-Terror auf sie auswirkte, machen erst die Recherchen des Segeberger Historikers deutlich. Er wühlte sich auf digitalem Wege durch das Hamburger Staatsarchiv, durch die Archive von Yad Vashem in Jerusalem, Eindhoven und Amsterdam in Holland und vor allem durch die Arolsen-Archives, dem internationalen Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen über rund 17,5 Millionen Menschen im hessischen Bad Arolsen gehört zum Unesco-Weltdokumentenerbe.
Die Ergebnisse ergaben zusammengefasst die Lebenswege der Familie Levy.
Aber wirklich greifbar wurde alles durch einen Brief, den Martin Levy im März 1947 in Shanghai aufgab und der wenig später bei der Familie Harder in Bad Segeberg landete. In der Schlachterei Harder an der Kurhausstraße hatte Martin Levy seine Ausbildung absolviert, bevor er später nach Hamburg zog, um als erfolgreicher Vieh- und Pferdehändler sein Geld zu verdienen.
Der Brief tauchte erst im Nachlass der Familie Harder wieder auf und verdeutlicht den schweren Lebensweg des Mannes, der sein Leben nach dem Krieg offenbar wieder neu organisieren wollte. Frau und Kind waren im Ghetto nahe der weißrussischen Hauptstadt Minsk, einem der vergessenen Schauplätze des Holocaust, ermordet worden. Martin selbst hat im Ghetto von Shanghai, wo Juden zwar diskriminiert, aber nicht getötet wurden, den Holocaust überlebt.
Wie aus dem Brief hervorgeht, hatte Martin Levy den Wunsch, nach Bad Segeberg zurückzukehren und erhoffte sich Unterstützung durch die stadtbekannte Schlachterfamilie. Offenbar kam es tatsächlich zu einem kurzen Besuch in der Heimat, aber die erforderlichen Papiere konnten nicht beschafft werden.
Warum es diese Papiere nicht gab, liegt im Dunkeln der Nachkriegsgeschichte. Eigentlich hätte es klappen müssen: Die Engländer hatten den Juden Jean Labowsky 1946 zum Bürgermeister Bad Segebergs ernannt, ein Duzfreund von Marin Levy. Trotzdem – Papiere konnte auch er nicht beschaffen. Axel Winkler vermutet, dass der Heimkehrer resignierte: Einerseits keine neuen Papiere, andererseits kein lebender Verwandter mehr in der Stadt. „Da hat er wohl den Entschluss gefasst, in den USA sein Glück zu versuchen.“
Martin Levy zog schließlich nach Boston im US-Bundesstaat Massachusetts, wo er 1954 im Alter von 52 Jahren an einer Herzerkrankung starb – vermutlich eine Spätfolge von Internierung und Folter unter anderem im Konzentrationslager Sachsenhausen nördlich von Berlin. Levy hatte zwar mehr Glück als andere Juden: Nach einigen Monaten ließ man ihn frei, verlangte als Bedingung aber die sofortige Ausreise. In seinem Falle ins chinesische Shanghai. Verlängert hat dieser Umstand sein Leben jedoch nur um ein paar Jahre.
Für Axel Winkler ist der Brief auch ein Beweis dafür, dass die Nazis nicht nur grausame Mörder waren. Sie haben Menschenleben auch auf andere Weise vernichtet: Durch Vertreibung, durch Quälen, durch psychische Folter – bis sie aufgaben oder nicht wieder Fuß fassen konnten.
Wer die Stolpersteine in der Kurhausstraße betrachtet und dazu die Lebensgeschichte der Levys auf einer danebengestellten Gedenktafel liest, erfährt viel über die das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte. Es lohnt sich, dort ein paar Minuten zu verweilen.