Tangstedt. Das größte Problem bei der Arbeit ist die Verständigung

Als Ruslan Hyrenko (37) an diesem Morgen zu Boris Brosch ins Auto steigt, scheint zunächst alles wie immer zu sein. Wie immer in den letzten drei Wochen, seit Ruslan den Malermeister aus Wilstedt zur Arbeit begleitet. „Guten Morgen“, sagt Ruslan. Es sind die ersten Wörter, die er in Deutschland gelernt hat. Mehr sagt er meistens nicht, die Sprache macht ihm Schwierigkeiten. Während der Fahrt zeigt Boris Brosch immer wieder aus dem Fenster, deutet mal hierhin, mal dorthin. „Die Ampel ist grün“, „Das ist ein Haus“, „Dort ist ein Zebrastreifen“. Er möchte Ruslan helfen, Deutsch zu lernen, sich zu integrieren. Er möchte ihm eine Chance geben.

Jeden Montag, Mittwoch und Freitag um 8 Uhr holt Boris Brosch den Kriegsflüchtling aus der Ukraine in der Tangstedter Mühle ab und nimmt ihn mit in seinen Betrieb nach Bergstedt. Dort hat er einen Schreibtisch mit Computer für ihn eingerichtet, an dem Ruslan zwei Tage pro Woche lernen kann. In Ruhe, fernab vom Trubel des Hotels. Ruslan macht keinen Online-Unterricht, hat kein Lehrbuch. Er lernt Deutsch mithilfe von Youtube. Er mag das.

Am liebsten ist er aber auf der Baustelle. Einen Tag pro Woche kann Ruslan die Maler bei der Arbeit begleiten und einen Einblick in ihre Tätigkeit bekommen. Berufsorientierung, nennt Boris Brosch das. Er hat in der Vergangenheit immer wieder Flüchtlinge beschäftigt, aktuell arbeiten zwei von ihnen fest bei ihm. Er sagt, dass es ihn glücklich macht, anderen zu helfen. Schon seit Jahren arbeitet er mit Bildungsträgern zusammen und bietet Berufsspezifische Praktika für sozial benachteiligte Jugendliche an. Viele von ihnen werden als „nicht ausbildungsreif“ eingestuft. „Quatsch“, meint Boris Brosch. Die meisten kämen einfach nur aus schwierigen Verhältnissen und hätten nie jemanden gehabt, der sie unterstützt. Deswegen hat er sich das zur Aufgabe gemacht, sie zu unterstützen. „Ist gut, wenn man andere auf den richtigen Weg bringen kann“, sagt er.

Er hat Ruslan angeboten, bei ihm eine Ausbildung zu machen oder als Hilfskraft anzufangen. Der 37-jährige Ukrainer hat in seiner Heimat schon als Maler gearbeitet, aber keine Lehre in dem Job gemacht. Als Hilfskraft könnte er sofort anfangen und Geld verdienen, für eine Ausbildung müsste er erst besser Deutsch lernen.

Sein Deutsch ist nicht gut genug für komplexe Sätze

B2. Er hat den Begriff ein paar Mal aufgeschnappt, wenn es um das Thema Ausbildung geht, kann ihn aber nicht richtig zuordnen. Boris hat probiert ihm zu klären, dass es sich dabei um ein Sprachzertifikat handelt, dass ein fortgeschrittenes Sprachniveau bescheinigt. Doch Ruslan hat ihn nicht richtig verstanden. Die Kommunikation ist schwierig. Sie nutzen Übersetzungs-Apps, bei denen einer von ihnen etwas in seiner jeweiligen Sprache eingibt - und das Programm die Worte übersetzt. Bei einfachen Sätzen klappt das gut, bei komplexen Sachverhalten kommt es oft zu Problemen. Deswegen wollen sie sich in den nächsten Tagen mit einer Übersetzerin zusammensetzen, die Ruslan alles noch mal genau erklärt. Er ist hin und her gerissen. „Es ist besser zu meistern“, sagt Irina (35) und meint: Es ist besser, als eine Ausbildung zu machen. Dann hat man später bessere Chancen und verdient mehr Geld. Eine App hat die Worte für sie übersetzt. Irina ist Ruslans Frau, die beiden durften die Ukraine gemeinsam verlassen, weil ihr 12-jähriger Sohn Daniil vor zwei Jahren eine Krebserkrankung hatte. Sie wollen sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Ihre Tochter Diana hat heute Geburtstag. Sie wird ein Jahr alt.

Diana hat diese Woche ihren ersten Geburtstag gefeiert
Diana hat diese Woche ihren ersten Geburtstag gefeiert © Privat | Privat

An diesem Morgen, als zunächst alles wie immer zu sein scheint, klingelt mehrmals das Handy von Ruslan. Er bekommt viele Anrufe aus der Heimat, aus Charkiw. Die Stadt steht unter Dauerbeschuss. Die Eltern von Ruslan und Irina leben dort, beide haben noch Geschwister in der Stadt. Es gibt Tage, da haben sie das Gefühl, es vor Sorgen kaum aushalten zu können. Vor ein paar Tagen haben sie erfahren, dass die Eltern von Daniils Freund bei einem Angriff getötet wurden.

Irina hat ihre Eltern gebeten, ebenfalls zu fliehen. „Doch sie haben ihr ganzes Leben dort verbracht und haben ein Haus. Es ist schwer für sie, alles aufzugeben“, übersetzt Irina mit Hilfe ihres Handys. „Sie schießen ständig mehr“, sagt Irina. Sie ist im Hotel und wartet auf Ruslan. Sie hat Angst.

Es gibt Momente, da kann sie die Angst verdrängen. In den letzten Wochen musste sie lernen, zu funktionieren. Sie kennt das Gefühl. Es gab schon mal eine Zeit in ihrem Leben, in der sie nur noch funktioniert hat. Als ihr Sohn Daniiel Krebs hatte, im Dezember 2019 war das. Er war damals gerade zehn Jahre alt. Irina tippt die Erinnerungen an diese Zeit in ihr Handy, ein Programm übersetzt ihre Worte. „Er hatte Bauchschmerzen. Wir waren zur Untersuchung beim Gastroenterologen. Uns wurden Tabletten verschrieben, die nicht halfen, sie machten erneut einen Ultraschall und der zeigte eine Formation.“ Wenige Zeilen, so großes Leid. „Es war wahnsinnig beängstigend und hart.“ Aber Ruslan und sie hätten das gemeinsam durchgemacht. Gut sei das gewesen, sagt sie. Ruslan sei gut. Andere Männer seien nicht so stark wie Ruslan. Sie hat Ehemänner kennengelernt, die in der gleichen Situation nicht so waren wie Ruslan. „Im Juni 2020 wurden wir nach sechs Blöcken Chemotherapie entlassen“, fährt Irina fort. Es ist kurz nach Daniils elftem Geburtstag. Damals glaubt, hoffte sie, dass jetzt alles gut wird. Acht Monate später brach der Krieg aus.

Ruslan und Irina wollen sich in Deutschland eine neues Leben aufbauen

Wenn Irina von den ersten Tagen des Krieges spricht, sagt sie das, was die meisten von ihnen über diese Zeit sagen: Dass sie dachte, es hört bald wieder auf. Dass der Krieg nur ein paar Tage dauert. Inzwischen sind es fast zwei Monate. Am Anfang haben sie und die anderen Frauen die Tage noch mitgezählt, irgendwann hat das aufgehört.

„Wir wollen uns hier ein neues Leben aufbauen“, sagt Irina immer wieder, wenn man mit ihr spricht. Sie lacht viel, packt Probleme an. In der Mühlen-Gruppe, wie die Flüchtlinge inzwischen genannt werden, ist sie so etwas wie der Leader - eine Art Anführerin. Wenn es Probleme gibt, kommen die anderen zu ihr. Wenn Gutscheine mit unterschiedlichem Wert verteilt werden, bitten die Helfer sie um Unterstützung.

Sie selbst musste lernen, um Hilfe zu bitten, um Unterstützung. Als sie einen Buggy für Diana brauchte, ein Töpfchen, ein Kleid für ihren ersten Geburtstag. Zuhause in Charkiw hatte sie bereits alles für den ersten Geburtstag vorbereitet. Sie hatte eine Feier geplant, Geschenke besorgt, eine Torte mit rosa Zuckerguss bestellt und ein wunderschönes Kleid gekauft. Es sollte etwas besonderes sein, dieser erste Geburtstag ihrer Tochter. „Doch dann habe ich die Sachen in der Eile zuhause vergessen“, sagt Irina und meint ihren überstürzten Aufbruch, die Flucht aus Charkiw. Sie haben damals nur das Nötigste in ein paar Rucksäcke gestopft. Das Kleid haben sie nicht mitgenommen. „Aber eine sehr nette deutsche Familie hat uns eins geschenkt“, sagt Irina und möchte sich bei allen bedanken, die die Flüchtlinge unterstützen. Sie weiß, dass es in der Vergangenheit Spannungen im Hotel gegeben hat, weil einige Frauen unzufrieden über die finanzielle Unterstützung des Amtes waren. „Bitte schreiben Sie, dass wir für die Hilfe sehr dankbar sind.“

Früher hat Daniil Judo gemacht - dann wurde er krank

Zu Dianas Geburtstag hat das Team von der Tangstedter Mühle ihren Tisch mit Luftballons geschmückt und eine Reihe von Schoko-Muffins in Form einer 1 aufgestellt. Irina ist gerührt. „Das war sehr schön“, sagt sie. Aber sie vermisst ihre Eltern. Irina hätte gerne mit ihnen zusammen gefeiert. Ihre Eltern und Schwiegereltern haben sie an dem Tag angerufen. Alle wollen gratulieren, man bemüht sich um Heiterkeit. Doch jeder von ihnen weiß, wie schlimm die Lage in Charkiw ist. Auch wenn es keiner ausspricht.

Es ist kurz vor 12 Uhr an Dianas Geburtstag, als Ruslan mit seinem Handy in der Hand auf Boris Brosch zugeht und ihm die Worte auf dem Display zeigt, die er übersetzt hat. „Darf ich heute früher gehen? Meine Tochter hat Geburtstag.“ Er will seine Familie überraschen. Jedes Mal, wenn er mit Boris in die Firma fährt, lädt er morgens an der Tangstedter Mühle ein Fahrrad in den Transporter des Malermeisters und fährt Nachmittags damit nach Hause. Knapp 10 Kilometer sind es von Bergstedt nach Tangstedt.

Als er im Hotel ankommt, spielt Daniiel mit ein paar Jungs auf dem Hof. Er versteht sich gut mit den anderen. Sie haben das gleiche durchgemacht, die Erfahrung verbindet sie. Sie sind Flüchtlinge, Fremde in einem Land, deren Sprache sie nicht sprechen. Irina ist froh, dass er neue Freunde gefunden hat. Trotzdem wünscht sie sich, dass die Jungs sich trennen. „Sonst sprechen sie untereinander nur russisch und ukrainisch - und lernen nie die neue Sprache.“

Sie hofft, dass Daniil bald Freunde aus Deutschland findet - und ein neues Hobby. Zuhause, vor der Krankheit, hat er Judo gemacht und „viele Pokale und Medaillen gewonnen“, sagt Irina. Doch seit der Operation ist Judo zu gefährlich für ihn. Bei der letzten Untersuchung haben ihm die Ärzte erlaubt, Fußball zu spielen, kurz vor dem Krieg war das. Irina sagt, dass der Krieg alles ruiniert hat.