Norderstedt. Stadtverwaltung, das Willkommen-Team und zahllose Bürgerinnen und Bürger – wie das Hilfe-Netzwerk funktioniert.

Vor sechs Wochen ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. Seitdem sind jeden Tag im Fernsehen kaum zu ertragende Bilder zu sehen. Norderstedts Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder kann und möchte sich an diese Aufnahmen nicht gewöhnen. Wie in vielen Menschen haben sie auch in ihr das Gefühl ausgelöst, unbedingt helfen zu wollen. Am 3. März sind die ersten ukrainischen Geflüchteten in Norderstedt angekommen. „Wir bemühen uns nach Kräften, es den Menschen so angenehm wie möglich zu machen. Hier ist jeder willkommen“, sagt Roeder.

Norderstedt: Der große Andrang aus der Ukraine ist abgeklungen

570 Ukrainerinnen und Ukrainer hat die Stadt bereits aufgenommen. 420 Personen sind privat in Familien untergekommen, die ihre Gästezimmer zur Verfügung gestellt haben. Weitere 150 Menschen hat die Stadt in Hotels, Wohnungen oder Flüchtlingsunterkünften untergebracht. „Wir haben uns auf große Mengen vorbereitet“, sagt Sozialdezernentin Katrin Schmieder. „Nach zwei Wochen waren plötzlich 350 Menschen in der Stadt. Jede Woche haben wir weitere 50 zugewiesen bekommen. Auf diesen Rhythmus haben wir uns vorbereitet, damit jeder ein Bett findet.“

Vorerst hat sich der große Andrang beruhigt. Sollte eine weitere Welle an Geflüchteten nach Norderstedt kommen, könnten notfalls in einer Sporthalle im Schulzentrum Süd 160 Personen untergebracht werden. Zelte, in denen sich Hoch- und Einzelbetten befinden, sind bereits aufgebaut. In einem Gemeinschaftsraum können Kinder spielen. Eine Obergrenze hat sich die Stadt nicht gesetzt. „Wir werden so viele Menschen aufnehmen, wie wir müssen. Ich möchte niemanden abweisen“, sagt die Oberbürgermeisterin. „Wir haben genug Wohnraum. Auch für Menschen aus anderen Ländern. Es kommen nicht nur Leute aus der Ukraine zu uns. Wir machen bei Geflüchteten keine Unterschiede.“

Krisenmanagerinnen: Heide Kröger (Stabsstelle Integration und Asyl), Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder und Sozialdezernentin Katrin Schmieder (v.l.).
Krisenmanagerinnen: Heide Kröger (Stabsstelle Integration und Asyl), Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder und Sozialdezernentin Katrin Schmieder (v.l.). © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

Wenn der Stadt Familien zugewiesen werden, bekommt sie vorab eine Nachricht mit Informationen zu den Geflüchteten und kann sie auf Unterkünfte verteilen. Es wird darauf geachtet, größere Familienverbünde nicht auseinanderzureißen. Bei der Ankunft der Flüchtlinge sind meist ehrenamtliche Helfer und Dolmetscher vor Ort. Die Ukrainerinnen und Ukrainer machen einen Corona-Test im Rathaus, ihr Ausweis wird kopiert und ein Foto für die Krankenversichertenkarte gemacht. Daten für Sozialleistungen werden erfasst, dann bekommen die Flüchtlinge einen Scheck, den sie bei der nächstgelegenen Bank einlösen können, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. „Wenn nicht so viele Menschen auf einmal kommen, ist der Ablauf entspannt“, sagt Katrin Schmieder.

Norderstedt: Belastung der Stadtverwaltung extrem gestiegen

Nicht in allen Kommunen läuft die Ankunft der Flüchtlinge so geregelt ab wie in Norderstedt. In Nachbargemeinden warten Menschen zum Teil seit Wochen auf Sozialleistungen (das Abendblatt berichtete). Der Norderstedter Verwaltungsspitze ist es wichtig, einen Einblick hinter die Kulissen zu geben. Sie möchte zeigen, wie die Aufgabe gestemmt werden kann. „Wir hatten schon andere Krisen. Unser Netzwerk ist im Laufe der Jahre gewachsen und wir haben uns als Stadt sehr gut aufgestellt. Davon profitieren wir jetzt“, sagt Fabian Schindler, Sprecher der Stadt.

In der Sporthalle des Schulzentrum Süd können  160 geflüchtete Personen untergebracht werden. Noch steht die Notunterkunft leer.
In der Sporthalle des Schulzentrum Süd können 160 geflüchtete Personen untergebracht werden. Noch steht die Notunterkunft leer. © Stadt Norderstedt | Stadt Norderstedt

Die Belastung der Stadtverwaltung ist durch den Ukraine-Krieg extrem gestiegen. Andere Projekte bleiben liegen, weil sie als weniger dringlich eingestuft werden. „Es geht um Menschen. Wir erleben gerade etwas wie nie zuvor. Der Krieg ist so nah an uns dran. Alle Rathausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter sind motiviert, Überstunden zu leisten. Wir können sie abbauen, wenn die Krise geschafft ist“, sagt Roeder. Das Team stehe geschlossen zusammen. „Ich bin dankbar und stolz, eine so tolle Mannschaft und so viele Ehrenamtliche an unserer Seite zu haben“, sagt die Oberbürgermeisterin und hebt besonders das Willkommen-Team hervor, das seit 2014 ankommenden Menschen in Not hilft.

An Bürgerinnen und Bürger, die ukrainische Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen haben, verschickt die Stadt regelmäßig einen Newsletter mit allen wichtigen Informationen und Aktivitäten. Die Verwaltung besitzt von nahezu allen Helfenden E-Mail-Kontakte. Von Anfang an hat sie konsequent darauf hingewiesen, Hilfsangebote an die extra eingerichtete Mail-Adresse ukraine-hilfe@norderstedt.de zu schicken. Die Rückmeldungen von Norderstedtern, die ihren privaten Wohnraum teilen, seien überwiegend positiv, sagt Sozialdezernentin Katrin Schmieder. „Es gibt nur einen kleinen Anteil, der vier Wochen jemanden aufgenommen hat und so sehr belastet ist, dass wir eine andere Lösung finden müssen. Wir bieten sofort Unterstützung an, wenn es irgendwo klemmt.“

Norderstedt: Was es bedeutet, Flüchtlinge privat aufzunehmen

Die Anteilnahme ist ungebrochen. Es melden sich laufend weitere Menschen im Rathaus, die helfen möchten. So haben es auch Sabine Dietel und Peter Mularczyk vor einigen Wochen gemacht. Wenige Tage, nachdem sich die Norderstedter entschlossen hatten, Menschen aus der Ukraine bei sich im Haus aufzunehmen, standen sie vor der Tür: die 41 Jahre alte Aleksandra mit Tochter Zlata (8) und Mutter Antonia (62). Einen Tag zuvor hatte das Paar gegen Mitternacht einen Anruf von einem Helfer bekommen, der die Familie an der ukrainischen Grenze aufgegriffen hatte – 14 Stunden später fuhren die drei Frauen in einem Mercedes Kombi in Norderstedt vor. „Ich wollte sie willkommen heißen und ihnen so viel sagen. Vor allem, dass sie jetzt in Sicherheit sind“, erzählt Sabine Dietel. Doch bei der Ankunft war kein Dolmetscher dabei. Englisch sprechen die Ukrainerinnen nicht. Also schloss die 36-Jährige sie einfach in die Arme.

Als die Norderstedter die schrecklichen Bilder von zerbombten Wohnhäusern in den Nachrichten sahen, stand für sie sofort fest, dass sie helfen wollen. „Wir haben nicht lange diskutiert und uns bei der Stadt gemeldet, dass wir Menschen aufnehmen können.“ Ein paar Tage später saßen die neuen Mitbewohnerinnen an ihrem Esstisch. Die Frauen waren nach ihrer viertägigen Flucht aus Saporischschja erschöpft, wirkten in sich gekehrt. Mit dem Google-Übersetzer und Zeichensprache versuchten sie sich zu verständigen. „Wie lange bleiben wir hier?“, wollte Aleksandra wissen. Dietel und Mularczyk hatten keine Antwort auf diese Frage. Bis heute nicht.

Norderstedt: Überforderung bei den Gastgebern kommt schnell

„Wer eine Familie aufnimmt, sollte sich bewusst sein, dass es für sie keine Zwischenstation ist. Sie bleibt auf unbestimmte Zeit“, sagt Sabine Dietel. „Man stellt nicht einfach nur ein Zimmer zur Verfügung. Die Menschen sind traumatisiert. Man sollte sich um sie kümmern“, sagt Peter Mularczyk und fügt hinzu: „Das ist eine Herausforderung.“

Seit gut vier Wochen leben Sabine Dietel und Peter Mularczyk nicht mehr alleine in ihrem Haus. Im Keller haben sie für die drei Ukrainerinnen das Gästezimmer hergerichtet und eine provisorische Küche aufgebaut. „Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich ziemlich schnell überfordert fühlte mit der Situation“, gibt Dietel zu. „Wir haben A gesagt, jetzt müssen wir auch B sagen. Plötzlich hatten wir die Menschen in Fleisch und Blut bei uns sitzen. Wir möchten ihnen helfen – aber wie?“ Die 36-Jährige hat jeden Tag Essen vorbereitet, den Tisch mit Blumen geschmückt. „Ich wollte etwas tun, aber wusste gar nicht, was sie brauchen.“ Nach drei Tagen hat das Paar aufgehört, sich verrückt zu machen. „Wir fühlten uns zu 100 Prozent verpflichtet. Am Anfang hatte man das Gefühl, man muss die ganze Welt retten. Dann haben wir festgestellt, dass die Basics völlig reichen. Die Menschen essen und trinken und sind damit glücklich. Wir müssen keine Kopfstände machen“, sagt Peter Mularczyk.

Der 39 Jahre alte Leiter einer Marketingabteilung hat eine WhatsApp-Gruppe gegründet, um Norderstedter, die Geflüchtete bei sich aufgenommen haben, miteinander zu vernetzen. Aus knapp 50 Mitgliedern besteht das Netzwerk. „Die Gruppe ist super wichtig, um sich auszutauschen“, sagt er. Menschen berichten im Chat von ihren Problemen und können von den Erfahrungen der anderen profitieren. „Mit dem Google-Übersetzer stoßen wir schnell an unsere Grenzen. Deswegen ist es besonders hilfreich, dass sich Dolmetscher in der Gruppe befinden, die wir kontaktieren können.“

Norderstedt: Es sind die kleinen Glücksmomente

So wie André. Der 36-Jährige ist in der Ukraine geboren. 1999 ist er mit seinen Eltern von Odessa nach Deutschland gekommen. Für ihn war sofort klar, dass er seine Hilfe als Übersetzer anbieten würde. Er kennt Aleksandra und ihre Tochter mittlerweile schon. Für die Ukrainerinnen ist es schön, sich mit jemandem in vertrauer Sprache zu unterhalten. Sie sprechen Russisch miteinander. „Ich habe das Gefühl, ich würde schon länger hier leben. Mich zieht es nicht nach Hause – nur zu meinem Sohn“, erzählt Aleksandra und André übersetzt. Wenn sie über ihren Sohn spricht, laufen Tränen über ihre Wangen. Er ist erst 19 Jahre alt. Sie musste ihn in der Ukraine zurücklassen, um sich und ihre Tochter und Mutter in Sicherheit zu bringen. Ihr Sohn ist in Kiew stationiert und kämpft. Peter Mularczyk reicht ihr eine Packung mit Taschentüchern. Sie tupft sich über das Gesicht. „Sie fängt jedes Mal an zu weinen, wenn sie an ihren Sohn denkt. Aber vor ihrer Tochter möchte sie keine Schwäche zeigen“, erzählt Sabine Dietel.

Die kleine Zlata antwortet aufgeweckt auf Andrés Fragen und lächelt. Wie es ihr in der Schule gefalle, fragt er. „Gut!“, sagt die Achtjährige und nickt bestimmt. Sie besucht seit Kurzem eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache) an der Grundschule Heidberg. Dort hat sie ein Mädchen aus Kiew kennengelernt und sich mit ihr angefreundet. Zudem bieten vier Gemeinschaftsschulen in der Stadt DaZ-Klassen an – sie sind fast voll. 20 Schüler pro Klasse sind möglich.

Im Garten ihres neuen Zuhauses hat sich Zlata das Fahrradfahren selbst beigebracht. In der Ukraine besaß sie kein Rad. Es war ein Glücksmoment – für alle. „Es fühlt sich an, als hätte man Freunde bei sich im Haus. Die Situation ist sicherlich außergewöhnlich. Aber es läuft gut. Es funktioniert“, sagt Sabine Dietel.