Norderstedt. Carlotta (6) aus Norderstedt hat Krebs – ein Avatar ermöglicht, dass sie trotzdem jeden Tag ihre Klasse am Lessing-Gymnasium besuchen kann

Wenn Lotti sich im Unterricht meldet, dann leuchtet der Kopf hell auf. Und wenn sie lieber passiv mitarbeiten möchte, schimmert er nur bläulich. Lotti, wie Carlotta mit Spitznamen heißt, sitzt im Klassenzimmer der 6d des Norderstedter Lessing-Gymnasiums – nicht persönlich wie die anderen Kinder in der Klasse. Sondern vertreten von einem kleinen, weißen Kunststoff-Torso der die technische Bezeichnung AV1 trägt – er ist ein Telepräsenzroboter, auch Avatar genannt. Eine Kamera auf der Stirn des AV1 überträgt das Unterrichtsgeschehen auf Lottis Tablet. Die Lautsprecher des Roboters geben Lottis Stimme im Klassenzimmer wieder. So kann die Sechstklässlerin am Unterricht teilnehmen und Zeit mit ihren Freunden in der Klasse verbringen – weil ihre Krebserkrankung verhindert, dass sie das alles persönlich machen kann. Weil sie an vielen Tagen im Krankenhaus ist oder zuhause im Bett liegen muss.

Seit den Herbstferien vergangenen Jahres kann Lotti nicht mehr ins Lessing-Gymnasium gehen. Doch dank des AV1, gestellt von der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft, nimmt sie bereits seit November wieder regelmäßig am Unterricht teil. Ihre Klasse kümmert sich um den kleinen Roboter: Morgens holen die Schülerinnen und Schüler ihn aus dem Büro des Schulleiters ab, nehmen ihn mit in die unterschiedlichen Klassenzimmer und stöpseln ihn nach Schulschluss an den Strom an, damit der AV1 immer genügend Energie hat.

„Der Avatar ist für mich wie eine Art Katzenklappe“, sagt Lotti. Ihre Stimme kommt aus den Lautsprechern des weißen Geräts, sie bedient es aus der Ferne mit einem Tablet. „Er ist jeden Tag an, und ich kann mich entscheiden, ob ich in die Klasse komme oder nicht.“ Schließlich ist sie krankheitsbedingt nicht immer in Höchstform.

Es geht nicht nur ums Lernen, sondern um Sozialkontakte

Weil der Avatar speziell für schwerkranke Kinder entwickelt wurde, ermöglicht er zwar Lotti den Blick ins Klassenzimmer, aber der Klasse keine Bildübertragung von Lotti. So bleibt die Privatsphäre der Erkrankten gewahrt. Der AV1 macht es Lotti mit seinen Funktionen möglich, ihre Verfassung oder Stimmung abzubilden: Wenn nicht mehr geht als Zuhören, dann schimmert der Roboterkopf eben blau. Die leuchtenden Augen des Avatars hingegen können Gesichtsausdrücke mimen, zum Beispiel irritiert blicken, traurig oder nachdenklich. So wissen die Klassenkameraden immer, wie es Lotti geht. „Man kann sogar spicken, denn der AV1 kann sich drehen und seinen Kopf bewegen. Es gibt auch einen Flüstermodus mit gesenkter Lautstärke, um mit dem Banknachbarn zu tuscheln“, sagt Carina Schmitz von der norwegischen Firma No Isolation, die das Gerät entwickelt hat.

Solche Funktionen unterstreichen das soziale Ziel der Firma. Es geht weniger darum, Lerninhalte zu vermitteln, als darum, den Kontakt zur Klasse und den Freunden und Freundinnen dort zu pflegen. „Die Schule ist als soziale Institution wahnsinnig wichtig für Kinder und Jugendliche: das soziale Umfeld, der Austausch in den Pausen“, sagt Schmitz. Der Avatar soll Augen, Ohren und Stimme für langzeiterkrankte Kinder sein. Die Firma selbst beschreibt ihren 2016 zunächst in Norwegen eingeführten AV1 als „warme Technologie“ – weil sie soziale Teilhabe ermöglicht.

Schleswig-Holstein ist Vorreiter in Deutschland

In Deutschland sind derzeit mehr als 230 der Geräte im Einsatz. Der Kostenpunkt eines AV1 beläuft sich auf etwa 3000 Euro, zuzüglich technischer Wartung. Möglich ist auch die monatliche Miete, die 300 Euro kostet. Für Betroffene gibt es diverse Möglichkeiten der unterstützenden Finanzierung, beispielsweise mithilfe von Fördermitteln aus dem Digitalpakt Schule, durch private Spenden und spezielle Fördervereine.

Lottis Avatar im Norderstedter Lessing-Gymnasium hat die Schleswig-Holsteinische Krebsgesellschaft finanziert, das zugehörige Projekt heißt „Mittendrin“ und startete 2018 – in enger Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium, wie Eileen Lara Meier, Projektleiterin bei der Krebsgesellschaft sagt. Mittlerweile besitzt die Gesellschaft 13 der Avatare, die sich allesamt in der Ausleihe befinden. Das Projekt finanziere sich mehrheitlich über Spenden.

Bildungsministerin Karin Prien (r.) besuchte die Klasse 6d und Carlotta im Unterricht.
Bildungsministerin Karin Prien (r.) besuchte die Klasse 6d und Carlotta im Unterricht. © BIMI SH

Die Initiative gilt als Pilotprojekt - und sie macht den Anschein, erfolgreich zu sein. Denn schon bald möchte Bildungsministerin Karin Prien für das Land eigene Geräte anschaffen. Die könnten dann auch Kindern mit anderen schweren oder chronischen Erkrankungen zugute kommen. Mit den landeseigenen Telepräsenzrobotern ist Schleswig-Holstein das erste Bundesland, das einen Vorstoß in diesem Bereich wagt.

Bei ihrem Besuch im Lessing-Gymnasium überzeugte sich die Bildungsministerin von dem AV1 in Aktion. Sie kam mit Katharina Papke von der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft, dem Schulleiter Carsten Apsel, dem Klassenlehrer der 6d, Jens Reisch und natürlich Lotti - zugeschaltet via Avatar - ins Gespräch. Prien berichtete von den Startschwierigkeiten des Projektes: „In meiner datenschutzrechtlichen Naivität habe ich damals gesagt: ,Wir machen das einfach’.“ Doch es habe sich schnell herausgestellt, dass der Einsatz des AV1 „vor den strengen Augen unseres Datenschutzes“ eine schwere Geburt würde, so Prien. Der Grund dafür: Weil die Klasse auf dem Tablet des kranken Kindes zu sehen ist, könnten sich rein theoretisch Dritte Zugang zu dem Bildmaterial verschaffen. Deshalb sind unter anderem Einverständnisse aller Kinder, Eltern und Lehrkräfte einzuholen, bevor ein Telepräsenzroboter in Betrieb genommen werden darf.

Im Falle der 6d am Lessing-Gymnasium war das kein Problem. „Die Idee wurde wohlwollend von allen Eltern und Kindern aufgenommen“, sagt Klassenlehrer Jens Reisch. Ein Glück für Lotti und ihre Mitschülerinnen und -schüler. Allerdings bedeuten die strengen Richtlinien auch, dass der AV1 ausschließlich im Klassenverband benutzt werden darf. Auf den Pausenhof darf der Avatar nicht, weil dabei Kinder anderer Klassen ohne Einverständnis auf Lottis Bildschirm zu sehen sein könnten.

Wenngleich die Sechstklässlerin froh ist über ihre digitale Vertretung im Klassenzimmer, so ist ihre Teilnahme per AV1 doch ein absoluter Ausnahmezustand. Lotti wünscht sich nichts mehr als Normalität, sagt sie: „Ich vermisse einfach alles. Den Schulweg, in der Schule zusammen zu essen…“ Diese Momente der Gemeinsamkeit im Schulalltag kann keine Technologie ermöglichen. Allerdings: Wenn alles gut läuft, kann Lotti im Sommer ihre Intensivtherapie beenden. Nach den großen Ferien darf sie den AV1 endlich gegen den ersehnten, ganz normalen Schulalltag tauschen.