Norderstedt. Die Evangelisch-Lutherische Kirche Norddeutschlands versucht mit neuen Entwicklungsprojekten dem Mitgliederschwund entgegenzusteuern.
Schwere Zeiten brechen für die Evangelisch-Lutherische Kirche Norddeutschlands, die Nordkirche, an. Auch in diesem Jahr musste die Kirchengemeinde ein Minus bei den Mitgliederzahlen verkraften. Die Nordkirche zählt zu den sechs größten Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Ihr Wirkungsgebiet erstreckt sich von der dänischen bis zur polnischen Grenze, damit gehört sie zu den größten Landeskirchen. Sie umfasst ungefähr 1000 Kirchengemeinden und fast 1900 Kirchen und Kapellen.
Laut der aktuellen Erfassung zählen etwa 1,8 Millionen Menschen aus den Regionen Schleswig, Holstein, Hamburg, Lübeck, Mecklenburg und Pommern zu den Mitgliedern der Nordkirche. Im Jahr davor konnte die Kirche noch insgesamt 1,9 Millionen Angehörige verzeichnen. Im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein, der unter anderem die Stadt Norderstedt umfasst, ging die Anzahl der Mitglieder bei einem jährlichen Durchschnitt von ungefähr 4000 ausgetretenen Mitgliedern seit dem Jahr 2018 von 208.316 auf 190.117 Mitglieder zurück.
Auch in den weiteren Kirchenkreisen im Kreis Segeberg, Altholstein und Plön-Segeberg, gingen die Mitgliederzahlen im gleichen Zeitraum von 203.494 auf 190.131, beziehungsweise von 119.617 auf 113.103 zurück. Im Kreis Plön-Segeberg wurde zudem im Jahr 2022 bereits im ersten Quartal ein Rückgang von fast 4000 Gemeindemitgliedern aufgeführt. Diese Statistiken bestätigen die Entwicklung der letzten Jahre, in denen immer mehr Menschen aus der Kirche austraten. „Man muss beachten, dass wir jedes Jahr einen Rückgang von mindestens zwei Prozent der Mitglieder hinnehmen müssen. Dieser Umstand begleitet unseren Kirchenkreis schon seitdem ich hier tätig bin“, sagt Jürgen Schindler, Öffentlichkeitsbeauftragter des Kirchenkreises Altholstein. Darüber hinaus erklärt er, „dass es bezüglich der Zahlen zum Teil große kommunale Unterschiede gibt“. In den Städten, wie zum Beispiel Henstedt-Ulzburg, gibt es aufgrund des demografischen Wandels viel mehr Bewegung bei den Ein- und Austritten, als auf dem Land. In den kleineren Gemeinden sind die Zahlen deutlich beständiger.
Studie belegt: Kirche spielt für viele keine Rolle im Leben
Aufgrund der neuesten Entwicklung hat die EKD in einer Studie zum Rückgang der Kirchenmitglieder ermittelt, welche die häufigsten Austrittsgründe für die Mitglieder sind – überkonfessionell. 1500 ehemalige Evangelen und Katholiken wurden in den Jahren 2020 und 2021 bundesweit befragt, darunter 1000 Menschen, die erst seit 2018 oder später ausgetreten sind.
Zu den konkreten Ursachen für Kirchenaustritte zählen laut der Studie vor allem die kirchlichen Skandale zur sexualisierten Gewalt an Kindern. Gerade in den letzten Jahren häuften sich diese Vorkommnisse und wurden oftmals öffentlich verschwiegen. Bei ehemaligen Katholiken zählt laut der EKD „auch die Ablehnung des Katholizismus gegenüber Homosexuellen dazu“. Außerdem gelten auch die Affären um Verschwendung finanzieller Mittel in der Kirche als konkreter Anlass für den Abgang zahlreicher Kirchenmitglieder.
Aufgeführt in der Studie sind auch eine ganze Reihe „erweiterter Gründe“. Eines der häufigsten Motive dieser Kategorie ist die fehlende religiöse Sozialisation, etwa die nur sporadisch religiös geprägte Kindheit in einem kirchenfernen Elternhaus. Religion und Kirche spielen im Leben der ausgetretenen Mitglieder schlicht keine Rolle mehr. Auch die mit dem Austritt verbundene Ersparnis der Kirchensteuer zählt zu den erweiterten Gründen. Viele ehemalige Mitglieder sind zudem mit dem Umgang der Kirche bezüglich gesellschaftlicher Anforderungen unzufrieden und begründen ihre Austrittsentscheidung mit dem „Versagen“ der kirchlichen Institution.
Die Nordkirche steht angesichts der Vielzahl an Beweggründen der ausgetretenen Mitglieder vor einer schweren Aufgabe, um neue Anreize für den Eintritt in den Kirchenbund zu schaffen. Der stetige Gesellschaftswandel stellt die Kirche vor die Herausforderung, flexibler auf individuelle Lebenssituationen einzugehen. „Es gilt, Menschen vielfältige Zugänge zum Glauben und dem gemeindlichen Leben in Kirche und Diakonie zu eröffnen“, sagt Antje Wendt, Presse- und Medienreferentin der Bischofskanzlei Schleswig. „Um an die Lebenswelt der Menschen und individuell bestimmte Lebensmuster anzudocken, bedarf es innovativer Formate, Arbeitsformen und Strukturen. Es sollen daher Erprobungsräume geschaffen werden, die das Ausprobieren innovativer Modelle ermöglichen, auch wenn sie über den Rahmen bisheriger kirchlicher Regelungen und Strukturen hinausgehen.“ Über diesen Zukunftsprozess hat die Nordkirche den Titel „Horizonte hoch 5“ geschrieben. Gemeint ist damit das Setzen neuer Prioritäten kirchlichen Handelns unter sich verändernden Rahmenbedingungen. Und dies eben in fünf verschiedenen Horizonten: dem Grundlagenhorizont, dem Gestaltungshorizont, dem Ressourcenhorizont, dem Regulationshorizont und dem Innovationshorizont.
Der Hoffnungsschimmer: Es gibt wieder mehr Taufen
Mit dieser Kampagne bemüht sich die Kirche um neue Zielgruppen bei ihren Mitgliedern. Untermauert wird sie auch von der bundesweiten Studie „Kirche im Umbruch – Projektion 2060“, wonach sich die Mitgliederzahlen der evangelischen wie der katholischen Kirche bis zum Jahr 2060 halbieren werden.
Antje Wendt sieht diese Reformierung vor allem als Chance: „Der andauernde Verlust von Mitgliedern und die abnehmende Bereitschaft von Menschen, sich an die Kirche zu binden, fordern die Nordkirche heraus, Menschen anders zu erreichen, als gewohnt.“
Dennoch soll die Kirchengemeinde vor Ort, ob in einem Dorf oder Stadtteil, auch in Zukunft zentral bleiben, um Menschen in ihrer Lebensumgebung persönlich zu erreichen und anzusprechen. Ein erstes Erfolgserlebnis beim Werben um neue Mitglieder hat die Nordkirche im vergangenen Jahr bereits erzielt: Die Anzahl der Taufen nahm im Vergleich zum Vorjahr wieder zu.
„Die Nordkirche ist eine zivilgesellschaftliche Kraft, die sich glaubwürdig und selbstbewusst in die Gesellschaft einbringt. Ihre soziale und theologische Kompetenz wird entsprechend geschätzt und gefragt“, sagt Antje Wendt. Trotz sinkender Mitgliederzahlen, lässt sie dieser Umstand optimistisch in die Zukunft der Nordkirche blicken.