Tangstedt. Erst brachte Anna Kharuk ihre vier Kinder nach Polen, dann musste sie selbst fliehen. Was sie zu berichten hat.
Als der Krieg ausbrach, dachte Anna Kharuk, dass er nur ein paar Tage dauern würde. Deshalb brachte sie ihre vier Kinder nach Polen, blieb aber selbst in der Ukraine bei ihrem Mann. Dann verließ auch sie das Land und flüchtete mit ihren Kindern David (3), Bogdana (8), Daniil (10) und Alina (20) nach Deutschland. Für das Abendblatt hat sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben:
Ukraine: Menschen berichten im Abendblatt von ihrer Flucht
„Unsere Familie glaubt an Gott, mein Mann ist Gemeindepastor. Am 24. Februar wachten wir von der Explosion auf und hatten große Angst, wir konnten nicht glauben, dass Russland die Ukraine wirklich angegriffen hatte. Am selben Tag sagte mein Mann, dass wir unsere Sachen packen sollen und er uns zur Grenze nach Polen bringt. Unsere älteste Tochter Ksenia (24) lebt mit ihrem Mann in Polen, dort wären wir in Sicherheit. Mein Mann selbst wollte, musste, in der Ukraine bleiben und dem Militär und den Bedürftigen helfen.
Die Kinder hatten große Angst vor jedem Geräusch, sie schauderten. Bevor wir das Haus verließen, trafen mein Mann und ich die Entscheidung, dass ich bei ihm in der Ukraine bleiben würde. Wir dachten, dass der Krieg nur ein paar Tage dauern würde und wir uns alle bald wiedersehen. Wir planten, dass Ksenia und ihr Mann die Kinder an der Grenze abholen sollen und sie bei ihnen bleiben, bis alles vorbei ist. Sie haben zwar nur ein Zimmer, aber wir dachten, dass es erstmal so geht.
Die Kinder waren sehr besorgt, dass wir nicht mit ihnen gingen, versuchten aber, es uns nicht zu zeigen. Am nächsten Tag brachten wir die Kinder gemeinsam an die Grenze – doch die Kinder waren nicht sie selbst. Wir hatten große Angst. Was wäre, wenn wir uns nie wieder sehen würden. Mein jüngster Sohn ist drei Jahre alt, er hat die ganze Zeit gezittert, als ob ihm kalt wäre. Es war die Angst, die ihn zittern ließ. Als wir uns von unseren geliebten Kindern getrennt haben, dachten wir, der Krieg würde in einer Woche enden und wir würden sie dann zu uns zurückholen. Wir haben falsch gedacht.
Ukraine: Eine ganze Nacht im Luftschutzbunker
Wir kehrten zurück zu unserer Kirche und beschlossen, dort zu leben und zu helfen, wo immer wir konnten. Es gibt eine Militäreinheit nicht weit von unserer Kirche, etwa 500 Meter entfernt. Die Frauen unserer Kirche und ich bereiteten Essen für die Soldaten zu, lieferten Brot und Lebensmittel an ältere Menschen, an Kinder oder an Bedürftige.
Am 26. Februar, um 17 Uhr, als wir gerade in der Kirche Tee tranken, donnerten zwei sehr schreckliche Explosionen. Glas zerbrach in Nachbarhäusern und die Erde bebte. Ich rannte auf die Straße und sah, wie die Militäreinheit brannte. Wir liefen alle zum Luftschutzbunker und saßen dort die ganze Nacht, da und beteten zu Gott, dass der Krieg enden würde.
Und am nächsten Tag haben wir wieder gekocht, den Leuten geholfen, Fenster zu verglasen, den Soldaten Essen, Medikamente, Ferngläser, Batterien und vieles mehr gebracht. Sieben Tage lang. Wir haben versucht, nachts zu schlafen, was nicht gut geklappt hat. Ich hatte immer Angst – Angst, meine Kinder nie wiederzusehen.
Ukraine: Schweren Herzens über Polen nach Tangstedt
Am 4. März, morgens, kochte ich Essen für 30 Soldaten, als es wieder eine Explosion gab. Sie zerstörte eine Schule in Zhytomyr und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich nicht mehr stark sein konnte. Mein Mann sagte mir, ich solle meine Sachen packen und er würde mich zu den Kindern bringen, und so ging ich nach Polen.
Wir wären gerne dort geblieben, doch meine Tochter und ihr Mann haben nur ein Zimmer und werden bald zum Arbeiten nach Deutschland gehen. Also nahm ich meine Kinder und floh mit ihnen nach Deutschland.
Ich kam in die sehr schöne und freundliche Gemeinde Tangstedt. Hier begegnete ich der Liebe und dem Verständnis der Anwohner. Die Freundlichkeit dieser Menschen und der Wunsch, uns Flüchtlingen zu helfen, waren grenzenlos. Was diese wunderbaren Menschen uns gegeben haben, ist unglaublich.
Ich möchte allen Einwohnern Tangstedts meine tiefe Dankbarkeit dafür aussprechen, dass sie uns Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen haben!! Ich bete zu Gott für euch alle!!!“
So wie Anna Kharuk haben auch andere Menschen aus der Ukraine aufgeschrieben, was sie auf der Flucht erlebt haben. Wir veröffentlichen die Tagebücher online unter www.abendblatt.de/ukraine-tagebuch