Tangstedt. Nur eine Woche nach der Ankunft in Tangstedt beginnt für die geflüchteten Menschen aus der Ukraine das Lernen.
Sie fragt sich, wie viele wohl kommen werden? Vielleicht 10 oder 15, womöglich sogar 20? Als Neleke Timmke (28) sich an diesem Morgen auf die erste Deutschstunde mit den ukrainischen Flüchtlingen in Tangstedt vorbereitet, ist sie aufgeregt. Erst vor einer Woche sind die 47 Frauen und Kinder sowie ein einziger Mann aus dem Kriegsgebiet in Tangstedt eingetroffen, niemand von ihnen spricht deutsch, die meisten noch nicht einmal englisch.
Als Neleke Timmke spontan angeboten hat, Deutschunterricht zu geben, wusste niemand, wie lange die Organisation dauern wird. Wann es einen freien Raum gibt und die Flüchtlinge bereit sind. Die meisten von ihnen haben bis zuletzt in ihrer Heimat ausgeharrt und den Krieg, das Leid und die Zerstörung selbst erlebt, fast alle von ihnen haben noch Angehörige in Kiew oder Charkiw und fürchten um das Leben ihrer Familien vor Ort. Unvorstellbar, dass die Menschen so kurz nach ihrer Flucht auch noch eine neue Sprache lernen wollen – können.
Tangstedt: Ukraine-Flüchtlinge zwischen drei und 58 Jahre alt
Neleke Timmke will es trotzdem versuchen. Die Lehrerin an einer Stadtteilschule ist derzeit in Elternzeit und möchte etwas tun – und sei es nur für die vielen Kinder, die in Tangstedt untergekommen sind. 21 sind es, von vier Monaten bis 17 Jahren. Es ist 9.30 Uhr, als Neleke Timmke mit ihren Vorbereitungen fertig ist. Sie hat 12 bunte Kreise auf den Boden verteilt, auf die sich ihre Schüler im Kreis setzen sollen. 12 ist eine gute Zahl, findet sie. Sie würde sich freuen, wenn so viele kommen.
Unterdessen sammeln sich vor der Tangstedter Mühle die ersten Flüchtlinge. Viele von ihnen sind viel zu früh dran, der Unterricht beginnt erst in einer halben Stunde. Aber sie wollen nicht zu spät kommen. Dafür ist die Sache zu wichtig. Die Kinder fahren auf dem Weg Roller und Dreirad, lachen. „Guten Morgen“, begrüßt ein Junge die anderen. Er hat sich die Worte übersetzen lassen und sagt sie immer wieder, zu jedem. Guten Morgen, guten Morgen. Einige versuchen, die Worte nachzusprechen, formen Laute, die für sie völlig fremd sind.
Dann geht es los. Alexander (14) führt die Gruppe an. Er ist einer von derzeit etwa 18 Freiwilligen, die russisch oder ukrainisch sprechen und beim Übersetzen helfen. Er ist selbst Halb-Russe, seine Mutter wurde in Moskau geboren. „Für mich war das ein Weg den Menschen zu helfen, denen Russland Schaden antut“, sagt Alexander.
Tangstedt: Deutsche Sprache auf spielerische Weise kennenlernen
Die Kinder erreichen das Gemeindezentrum zuerst, sie sind vorgelaufen, aufgeregt. Neleke Timmke freut sich, als die ersten Mädchen und Jungen eintreten. „Kommt rein“, sagt sie, winkt die Kinder zu sich und probiert die Anzahl abzuschätzen. Zehn sind es mindestens, doch dann kommen noch mehr. Schnell sind es 15, dann 20. Irgendwann ist es unmöglich, die Zahl zu überschlagen, es sind einfach zu viele. Viel mehr als erwartet. Fast alle sind mitgekommen, nur die Kranken sind im Hotel geblieben. Einige der Kinder haben einen Magendarm-Virus. „Ich bin total überwältigt“, sagt Neleke Timmke und begrüßt die Gruppe. Alexander übersetzt jedes Wort für sie, er hat sich mit den Kindern auf den Boden gesetzt. Für sie ist er einer von ihnen. Ein Vertrauter, Freund.
Neleke Timmke ist es wichtig, dass die Menschen auf spielerische Art und Weise die deutsche Sprache kennenlernen. „Bei so einer heterogenen Gruppe, wo die Teilnehmer zwischen 3 und 58 Jahren sind, macht es wenig Sinn, mit einem Flipchart vor den Leuten zu stehen und ihnen unsere Alphabetisierung beizubringen“, sagt die Lehrerin. Sie hat gemeinsam mit einer Freundin einen Stundenplan für ihre Schülerinnen und Schüler ausgearbeitet.
Tangstedt: Unterricht soll bald zweimal wöchentlich stattfinden
Es wird gesungen und gezählt, gemalt und gelacht. „Ich heiße Nele, wie heißt Du“, fragt Nele Timmke und wirft einem Jungen im Sitzkreis einen großen Schaumstoffwürfel zu. Die Flüchtlinge probieren nachzusprechen, kämpfen mit den Worten, brechen ab, versuchen es wieder und immer wieder. Sie üben die Zahlen, besprechen die Farben und malen Bilder von sich selbst, die sie mit Namen, Alter und Lieblingsfarbe beschriften sollen.
Valeria (20) ist begeistert. Sie hat in ihrer Schulzeit in der Ukraine ein paar Jahre Deutschunterricht gehabt, aber jetzt das Gefühl, nichts mehr zu können. Wenn sie sich auf deutsch verständigen möchte, tippt sie die Sätze in Ukrainisch ins Handy und lässt sie von einer Sprachapp übersetzen. Sie ist mit ihrem elfjährigen Bruder und ihrer Tante geflohen, ihre Eltern sind in Charkiw geblieben. „Es ist beängstigend, in einem Land zu leben und die Sprache nicht zu können“, sagt Valeria und macht sich Notizen auf ein Blatt Papier. Jemand hat ihr erzählt, dass es bald vielleicht zweimal in der Woche Deutschunterricht geben soll. Valeria hofft, dass es klappt. Sie will bis zum nächsten Mal alles wiederholen. Das Lernen lenkt sie ab. Manchmal fühlt es sich so an, als hätte das Leben aufgehört. Freunde von ihr sind in Charkiw gestorben. „Ich möchte wieder nach Hause, zu meiner Mutter“, sagt sie. Sei weiß, dass es nicht geht, noch nicht. Bis es soweit ist, will sie viel lernen.