Norderstedt. Das Abendblatt auf Spurensuche. Heute: Auf einem Garstedter Acker werden Signale aus dem Weltall empfangen.

Wer hier vorbeikommt – egal ob zu Fuß, mit dem Rad oder dem Auto –, bemerkt kaum etwas. Ein unspektakulärer Container, ein paar Antennen, die verstreut auf dem Feld stehen, dunkle Planen, die aussehen, als ob sie ein Gemüsebeet abdecken. Alles umgeben von einem heimeligen Lattenzaun.

Radioteleskop soll Hinweise auf den Urknall geben

Etwas abseits der Fahrbahn stehen allerdings zwei Informationstafeln, die bei aufmerksamer Betrachtung und Ausblendung von Fachbegriffen Aufschluss über die wahre Größe und Bedeutung dieser Anlage geben: Hier steht ein Radioteleskop, das unter anderem „Hinweise auf die Bildung der ersten Sterne im Universum...“ geben soll. Mit anderen Worten: Ausgerechnet in Norderstedt bemühen sich Wissenschaftler, die Entstehung unseres Universums zu entschlüsseln. Woher kommen wir? Wie sind die Menschheit und das Leben entstanden? Wohin bewegen sich Galaxien? Beschleunigt sich das Universum? Auf einem Acker in der Garstedter Feldmark am Rande der Straße Harthagen sind Forscher dem größten Rätsel der Menschheit auf der Spur.

Von Norderstedt aus erhalten Wissenschaftler einen Blick in die dunkle Epoche des Universums. Signale aus längst vergangenen Zeiten kommen hier an und werden entschlüsselt. Wie ist das möglich?

Die Griechen haben die Erde, Himmel und Sterne noch mit bloßen Augen beobachtet, Messungen angestellt und daraus Schlüsse gezogen. Mit Galileo Galilei, der 1609 mit einem Fernrohr den Himmel beobachtete, begann dann eine neue Ära der optischen wissenschaftlichen Beobachtung. Und jetzt gipfeln die wissenschaftlichen Erkenntnisse also in der Garstedter Feldmark?

100.000 Einzelantennen in sechs europäischen Ländern

Die Anlage sieht zunächst vollkommen unspektakulär aus, aber die unscheinbaren Gerätschaften auf dem Harthagener Acker, zwischen denen gerne mal Feldhasen hoppeln, gehören zum größten je gebauten Radioteleskop mit dem Namen LOFAR (Low Frequency Array). Die Anlage hilft den Forscherinnen und Forschern zu verstehen, wie Radioquellen im Weltall entstehen und wie riesige Mengen an Material mit bisher unbekannten Energiemengen in den Weltraum geschleudert werden. Die Radio-Teleskop-Stationen werden von der Universität Hamburg, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Bielefeld, dem Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn, dem Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, der Thüringer Landessternwarte und dem Astrophysikalischen Institut Potsdam betrieben.

Insgesamt sind es 100.000 Einzelantennen, die sich über sechs europäische Länder erstrecken und zusammen einen Durchmesser von mehr als 1000 Kilometern haben. Die 50 zusammengeschalteten Antennenanlagen, darunter auch die der Norderstedter Anlage, sind mit einem Großrechner im niederländischen Groningen verbunden. Die Stationen selbst liegen an strategisch wichtigen Punkten, die für die Qualität der Radiobilder von grosser Bedeutung sind.

Sie bestehen aus zwei Feldern mit den Low-Band- und High-Band Antennen, die auf einer Fläche von etwa 200 x 100 Metern verteilt sind. Die Signale aller Antennen werden per Kabel laufend an Computer übertragen, die in einem Container neben dem Antennenfeld untergebracht sind.

Mehrere Dutzend Kilometer Kabel mussten verlegt werden

Die Computer bereiten die Signale auf und übertragen sie per Glasfaserleitung zum zentralen Auswerterechner, dem Supercomputer in Groningen in den Niederlanden. Dort werden die Signale mit den Signalen der anderen Stationen zusammengeführt und die Radiobilder erzeugt.

Norderstedt ist also Teil eines großen Puzzles, das von Wissenschaftlern schließlich zu einem großen Ganzen zusammengefügt wird. Die Leitungen müssen pro Sekunde mehrere Gigabit Daten transportieren, und der Rechner muss die Daten von allen Stationen in Echtzeit verarbeiten. Das Glasfaserkabelnetz von Wilhelm.tel macht es möglich. Die Gesamtlänge der in der Erde verlegten Verbindungskabel zwischen Antennen und den Anschlüssen im Container am Harthagen beträgt mehrere Dutzend Kilometer. 192 Antennen sind auf zwei Hektar verteilt.

Die Wahl für die Station fiel auf Norderstedt, weil hier wenig Elektrosmog gemessen wird und die Radiowellen einigermaßen ungestört empfangen werden können.

Radioteleskop ermöglicht Blick in die Zeit kurz nach dem Urknall

„Von diesem Acker aus können wir tief in die dunkle Epoche der Entstehung des Universums blicken, in eine Zeit kurz nach dem Urknall, in der es noch kein Licht gab“, sagt Marcus Brüggen, Professor für Extragalaktische Astrophysik und Kosmologie an der Universität Hamburg. Er ist der „Chef“ der Norderstedter Anlage. „Mit diesem Radioteleskop wird ein ganz neues Fenster zum Weltall aufgestoßen. Mit dem LOFAR können wir kosmische Magnetfelder, in unserer Milchstraße und auch viel weit entferntere sichtbar machen.“

Auf die Antennen in Norderstedt prasseln nicht nur die wertvollen Frequenzen aus dem Weltall, sondern eine Unzahl von Störquellen wie Radio- und TV-Sender oder die Strahlung von Hochspannungsleitungen ein. Störsignale gehen sogar von den elektrischen Zäunen an den Pferdekoppeln in der Umgebung des Antennenfeldes aus. Mithilfe von aufwendigen Algorithmen können die Computer der Forscher all diese Störquellen herausfiltern.

Übrig bleiben so nur die wertvollen Zeugnisse aus dem Anbeginn der Zeit. Hier werden Signale aufgezeichnet, die größtenteils von Galaxien stammen und teilweise Milliarden von Lichtjahren zurückgelegt haben, bevor sie die Erde erreichen.

Auf dem Acker von Bauer Krohn entsteht LOFAR 2.0

Seitdem diese Anlage vor sieben Jahren in Betrieb gegangen ist, hat sich der technische Standard verändert. Ein Upgrade wird dafür sorgen, dass auf dem Harthagener Acker des Bauern Krohn LOFAR 2.0 in Betrieb ist. „Neue Elek­tronik sorgt für eine höhere Bildschärfe“, sagt Marcus Brüggen, der etwa einmal im Monat nach Norderstedt kommt und am Harthagen kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Ansonsten sitzt er zusammen mit neun weiteren Wissenschaftlern in der Hamburger Sternwarte am Gojenbergsweg 112 in Bergedorf, kontrolliert und wertet aus, was die Norderstedter Antennen an Material liefern.

Entdeckt wurden auf diese Weise Milliarden Lichtjahre große Magnetfelder, die überall im Universum verteilt sind. „So etwas hat vorher noch nie jemand gesehen“, sagt Professor Brüggen. Durch große Stoßwellen werden Elementarteilchen beschleunigt, die als kosmische Strahlung auch auf die Erde prasseln. Sie verändern das Erbgut – aber das ist keine Katastrophe: „Das hat es schon immer gegeben“, erklärt der Hamburger Astrophysiker, der den Zusammenhängen zwischen der Welt des allergrößten – dem Universum – und der Welt des allerkleinsten – den Elementarteilchen – auf der Spur ist. Ganz nebenbei übrigens wird aus den gelieferten Daten auch beobachtet, wie Blitze in Gewittern entstehen.

In der Garstedter Feldmark werden also die Rätsel des Universums entschlüsselt – und wer weiß, vielleicht gibt es eines Tages auch Erkenntnisse über ein Rätsel, das die Menschheit am meisten bewegt: Gibt es irgendwo da draußen außerirdisches Leben? Aber das ist Zukunftsmusik, die dann vermutlich doch nicht in Norderstedt gespielt wird.