Norderstedt. Geheimnisvolle Züge in der Nacht - mehr geschieht nicht mehr auf dem Industriestammgleis in Norderstedt.
Vor 50 Jahren sollte diese Gleisanlage die damals neu gegründete Stadt Norderstedt an das europäische Schienennetz anbinden und gleichzeitig ein Magnet für bedeutende Industrieansiedlungen sein: Das Industriestammgleis Norderstedt-Friedrichsgabe stand einst für die Zukunft des Norderstedter Industriezeitalters. Nach einem halben Jahrhundert kann sich kaum noch jemand an diese Pläne erinnern. Für die meisten Norderstedter sind diese Gleise, die sich bis zum Stadtpark und zur Oststraße erstrecken, ein Geheimnis. Was steckt dahinter?
Einer der wenigen noch lebenden Protagonisten von einst ist Walter Klencke, der es von seinem Haus in Friedrichsgabe nicht weit hat bis zu den Gleisanlagen zwischen Jungheinrich und dem Gebäudekomplex, in dem einst die Firma Grace untergebracht war. Hier verkehrt die AKN auf zwei Gleisen (A 2). Das östliche der beiden Gleise war einst für die Industriebahn verlegt worden.
Der heute 85 Jahre Walter Klencke war vor fünf Jahrzehnten die rechte Hand von Norderstedts erstem Bürgermeister Horst Embacher und später Leiter des Norderstedter Ordnungsamtes. Da er sich mit dem Bürgermeister an jedem Arbeitstag morgens um 8 Uhr zu einer Dienstbesprechung traf, war er in die Industriebahn-Pläne nicht nur eingeweiht, sondern in den Ablauf involviert. Er gehörte zu denjenigen, die mit dem Bund und interessierten Firmen verhandelte, um das Projekt anzuschieben.
Der Bauantrag wurde bei der Bundesregierung in Bonn gestellt, weil Norderstedt Geld aus dem 250-Millionen-Topf des damaligen Verkehrsministers Georg Leber („Leber-Plan“) bekommen wollte. Dabei ging es um ein Programm, das finanzielle Anreize für die Schaffung von Gleisanschlüssen in Industriegebiete bieten sollte. Das funktionierte, weil die Vertreter aus Bonn von dem Norderstedter Projekt und den zügig vorangehenden Planungen begeistert waren: Zehn Millionen Mark wurden zur Verfügung gestellt.
Das Verkehrsministerium in Bonn war begeistert
„Die Regierungsvertreter haben das Vorhaben als flotteste Maßnahme dieser Art in der Bundesrepublik bezeichnet“, erinnert sich Walter Klencke. Vor dem Antrag an das Bundesverkehrsministerium hatte Horst Embacher seine Hausaufgaben erledigt: Aus einer unverbindlichen Befragung größerer Norderstedter Betriebe ging hervor, dass viele Unternehmen eine Industriebahn begrüßten und auch nutzen würde. Dem Bau des „Magneten für Industrieansiedlungen“ stand also nichts mehr im Wege, zumal sich auch die lokalen Politiker den Argumenten des Bürgermeisters anschlossen.
Ausgangspunkt ist der fünfgleisige Übergabebahnhof zwischen den AKN-Bahnhöfen Tanneneck und Ulzburg-Süd nordwestlich von Norderstedt. Dieses sogenannte Stammgleis Friedrichsgabe war 5,236 Kilometer lang und führte bis zur Firma Grace. Zwischen den Haltestellen Haslohfurth-Kampmoor und Friedrichsgabe-Dorf wurde aus dem Stammgleis Friedrichsgabe am Kilometer 3,389 das Stammgleis Harkshörn ausgefädelt.
Es schwenkt in Höhe der Straße Flensburger Hagen im 90-Grad-Winkel nach Osten, unterquert die Ulzburger Straße, wendet sich im Gewerbegebiet Harkshörn wieder nach Süden und führt relativ gerade bis hinter die Straße Harckesheyde. Die geplante Anbindung des Gewerbegebietes Stonsdorf südlich von Harkshörn wurde nicht realisiert. Die Gesamtlänge des Stammgleises Harkshörn betrug 4,370 Kilometer, mit den damals fünf Anschließern, auf deren Gelände auch Gleise lagen, sogar 6,582 Kilometer. Die gesamte Anlage der Norderstedter Industriebahn wurde im Juli 1973 mit viel Prominenz eingeweiht. Walter Klencke erinnert sich: „Die Strecke wurden mit den Gästen abgefahren und endete bei der Firma Grace, wo auf alle ein hervorragendes Buffet wartete.“
Der erhoffte große Wurf aber blieb aus: Der Anschluss zur Firma Grace wurde im Laufe der Zeit immer weniger benutzt und lag zuletzt brach; 1981 gab es noch elf Fahrten im Jahr. Dann wurden es von Jahr zu Jahr weniger. Das Stammgleis Harkshörn wurde Anfang der achtziger Jahre verstärkt durch die Eröffnung des Volkswagen Original Teile Logistik GmbH & Co genutzt. Der schleichende Niedergang der Norderstedter Industriegleise begann in den 1980er-Jahren. Seit 1992 verkehren im Friedrichsgaber Bereich keine Güterzüge mehr.
Heute nutzt nur noch VWdas alte Stammgleis
Das Industriestammgleis Harkshörn, einstmals von fünf Unternehmen in Anspruch genommen, wird heute nur noch von VW genutzt. Im Vertriebszentrum Nord, wo bis zu 250.000 Teile lagern, werden täglich etwa 30.000 Teile für Lieferungen zu den Servicepartnern zusammengestellt. Nachschub kommt per Bahn über das Industriegleis zur hauseigenen Haltestelle, der einzigen im Gewerbegebiet Harkshörn, und per Lkw. Die Güterzüge verkehren vorwiegend nachts und werden gerne als „Geisterzüge“ bezeichnet. Norderstedter und Henstedt-Rhener hören die Geräusche, die der Zug nachts macht, gesehen hat ihn aber kaum jemand. Potenzielle Kunden, deren Gelände direkt an der Bahntrasse liegt, wickeln ihren Warentransport ausschließlich über die Straße ab. Die Straße Am Stammgleis erinnert an bessere Zeiten für die Gleisanlage.
Im Laufe der Jahre wurde das Gleis im Gewerbegebiet stark amputiert. Befahrbar ist das Stammgleis Harkshörn nur noch bis kurz vor der Straße Harckesheyde. Der Bahnübergang über die Harckesheyde wurde 2020 abgebaut und hinter dem Zusammenlauf der beiden Gleise ein Prellbock sowie ein Zaun gesetzt. Das Abstellgleis hinter der Straße in Richtung des Stadtparkgeländes liegt dort ohne Anbindung. Wer das Stadtparkgelände über den nördlichen Ausgang in Richtung Harckesheyde verlässt oder betritt, marschiert entlang dieser stillgelegten Gleise. Seit 2004 wird das Industriestammgleis vom internationales Transport- und Logistikunternehmen DB Cargo (bis 2009 Railion) aus Mainz betrieben. Die Gleisanlagen gehören der Verkehrsgesellschaft Norderstedt, einer Tochter der Stadtwerke Norderstedt.
Roeders Vision: Eine Bahnlinie bis nach Poppenbüttel
Die Norderstedter Industriegleise wären also längst aus dem Blickfeld der Norderstedter verschwunden, wenn es nicht ab und an öffentlich geäußerte Vorschläge gäbe, wie die Schienen doch noch sinnvoll genutzt werden könnten. 2011 überraschte der damalige Bürgermeister Hans-Joachim Grote mit der Nachricht über Gespräche mit der AKN, einen Haltepunkt am Stadtpark für Großveranstaltung einzurichten. 2015 brachte Grote das Industriegleis erneut ins Gespräch: Weil Hamburg damals noch Olympiakandidat für die Spiele 2024 war, konnte er sich vorstellen, über diese Gleise eine olympische Schießanlage anzubinden – quasi Norderstedts Beitrag zu den Hamburger Plänen, die dann am 29. November 2015 nach einem Volksentscheid beerdigt wurden.
Eine Aussage im schleswig-holsteinischen Landesentwicklungsplan 2018 zum Ausbau des Schienenverkehrs im Land inspirierte Norderstedts Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder zu kühnen Plänen. Die AKN könnte doch die Stammgleise nutzen, um das für 1300 Bürger geplante Wohnviertel Grüne Heyde sowie den Stadtpark anzubinden. Sogar bis zum S- Bahnhof Poppenbüttel soll dieser AKN-Abzweiger der Vision Roeders nach fahren. Auf diese Weise könnte auch Glashütte angebunden werden. Die Norderstedter CDU hingegen schlug vor, autonome Shuttles auf dem Gleis fahren zu lassen, die sowohl die Grüne Heyde und alle anderen Wohngebiete an der Strecke, als auch die Oststraße, den Stadtpark sowie Glashütte anbinden sollen.
Ob diese Pläne eines Tages verwirklicht werden können, steht in den Sternen. Konkrete Aussagen dazu gibt es aktuell weder aus der Rathaus, noch aus dem Kieler Verkehrsministerium.