Seit 25 Jahren verteilt die Norderstedter Tafel Lebensmittel an bedürftige Menschen - Ein Interview zum Jubiläum.
Humanität, Nachhaltigkeit, Teilhabe und Gerechtigkeit – dafür stehen die mehr als 950 Tafeln in Deutschland. Eine davon ist die Tafel Norderstedt, die Lebensmittel aus Geschäften, Bäckereien, Unternehmen und von Privatpersonen an bedürftige Menschen verteilt. Und das seit nunmehr 25 Jahren. Wir haben mit Ingrid Ernst und Margrit Grebe – sie leiten als Vorstände die Tafel Norderstedt – gesprochen.
Ingrid Ernst, wie wichtig ist es in diesen herausfordernden Zeiten, umsichtig für Menschen da zu sein?
Ingrid Ernst Ganz wichtig, da es vielen von ihnen ein Stück weit schlechter geht. Wir merken es daran, dass derzeit mehr Kunden zu uns kommen. Jedoch nicht so viele wie 2015 während der Flüchtlingskrise. Das war für uns fast eine Sternstunde.
Erzählen Sie davon.
Margrit Grebe Wir wurden fast überrannt und mussten ganz schnell überlegen: Was können wir tun, um die vielen Menschen zu unterstützen? Wir haben die Ausgaben einfach geteilt und die Kunden nicht jede Woche, sondern alle 14 Tage mit Lebensmitteln versorgt. Dadurch konnten wir zwei Jahre lang doppelt so viele Menschen unterstützen und sind danach wieder auf einmal pro Woche zurückgefahren.
Ingrid Ernst Die Tafel Norderstedt ist an den Krisen gewachsen und hat sich gut weiterentwickelt. Wir haben die Digitalisierung vorangetrieben, agieren mittlerweile wie ein Unternehmen. Für die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben der Berufsgenossenschaft, das Tagesgeschäft und die Logistik haben wir 2020 Dörte Brauer-Claassen als Geschäftsführerin eingestellt, die wir auch entsprechend entlohnen.
Kommen wir noch einmal zurück zur Pandemie. Wie sind Sie Corona begegnet?
Margrit Grebe Wir hatten die Tafel zunächst zwei Monate geschlossen. Um ein Hygienekonzept zu entwickeln und die Rahmenbedingungen zu schaffen, unsere Kunden und rund 200 Helfer zu schützen. Seitdem wir wieder geöffnet haben, bedienen wir die Kunden nicht mehr in unseren Räumen, sondern packen für sie Kisten und Tüten. In der Hoffnung, dass nicht allzu viel weggeworfen wird. Während der Schließung hatten wir einen Notdienst. Wir lieferten Lebensmittel an besonders bedürftige Menschen und konnten von der Aktion Von Mensch zu Mensch Gutscheine ausgeben.
Wer kommt zu Ihnen?
Ingrid Ernst Vorwiegend Menschen mit kleinem Gehalt beziehungsweise niedriger Rente. Auch Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfänger zählen dazu. Studenten und die Mutter mit Kleinkind, bei der es mit der Versorgung über den Vater des Kindes nicht klappt. Wir unterstützen ebenfalls das Frauenhaus und die Tagesaufenthaltsstätte TAS.
Sie sprechen von Kunden, nicht von Bedürftigen...
Margrit Grebe Unsere Kunden sind Bedürftige. Warum sie das sind, spielt für die Tafel keine Rolle. Wir benötigen einen Personalausweis und einen aktuellen Nachweis zu ihrer Einkommenssituation. Nach Prüfung stellen wir ihnen eine Berechtigungskarte zum Bezug von Lebensmitteln aus, die wir bei berechtigtem Bedarf für weitere Monate verlängern. Diese Karte gilt für einen Haushalt oder eine Bedarfsgemeinschaft. Pro Einkauf ist ein Betrag von zwei Euro zu entrichten.
Helfen Sie meist kurzzeitig? Oder begleiten Sie auch Kunden über viele Jahre?
Ingrid Ernst Beides. Für einige leisten wir Überbrückungshilfe. Andere versorgen wir schon seit 20 Jahren.
Macht es Sie hoffnungsfroh, dass Sie bereits so lange helfen konnten? Oder hoffnungslos, dass die Menschen immer noch auf Sie angewiesen sind?
Ingrid Ernst Ich bin so pragmatisch und mache es einfach. Punkt.
Margrit Grebe Ich frage mich häufig: Wie kann es in unserer Gesellschaft sein, dass jemand über so viele Jahre zu uns kommt und sich da überhaupt nicht mal was ändert? Aber letztendlich hast du, Ingrid, schon Recht. Wir helfen, weil Hilfe notwendig ist.
Mit Marion Steinvorth fing alles an, die nach einjähriger Tätigkeit bei der Hamburger Tafel im November 1996 in der Falkenbergkirche die Tafel Norderstedt gründete. Mit Unterstützung des damaligen Bürgermeisters Hans-Joachim Grote zog die Tafel 2002 in eigene Räume hier am Schützenwall 49. Bis heute versorgen Sie rund 900 Haushalte mit Lebensmitteln.
Ingrid Ernst Und das nicht nur viermal pro Woche in Norderstedt, sondern auch jeweils einmal wöchentlich in Ellerau, Henstedt-Ulzburg, Langenhorn, Poppenbüttel, Hummelsbüttel und Schnelsen.
Welcher Moment hat Sie in den vergangenen Jahren besonders berührt?
Ingrid Ernst Eines Abends war ich allein hier in der Tafel. Ein älterer Mann kam herein. Ich fragte: „Was kann ich für Sie tun?“ Er antwortete: „Ich möchte etwas für Sie tun. Hier ist mein Weihnachtsgeld. Das brauche ich nicht.“ Seitdem er berentet ist, sammelt er über das Jahr Kleingeld für uns. Diese Selbstlosigkeit berührt mich.
Margrit Grebe Ich muss an eine Kundin denken, die ich bei einer Ausgabe in einer Flüchtlingsunterkunft kennenlernte. Eine feine Dame, stets gekleidet mit Hut und Handschuhen, die in Armut geraten war. Sie stand immer ein wenig abseits, so klein und hilflos. Ich merkte ihr an, sie fühlte sich total fehl am Platz. Irgendwann ist sie weggeblieben, wohl aus Scham. Das hat uns betroffen gemacht. Inzwischen bringen wir ihr regelmäßig Lebensmittel vorbei, weil sie sich einfach nicht traut zu kommen.
Kommen wir zum Herz der Tafel, zu den 200 ehrenamtlichen Helfer:innen auf den Fahrzeugen und an den Ausgaben. Was bewegt sie, für die Tafel tätig zu sein?
Ingrid Ernst Sie sind nicht für uns tätig. Ein Ehrenamt macht man für sich selbst. 99 Prozent unseres Teams besteht aus Rentnern, die uns ihre Zeit schenken. Wir sind kein Damenclub! Will heißen: Bei uns musst du arbeiten und brauchst dafür einen gesunden Rücken. Kisten und Taschen schleppen, Autos ein- und wieder auspacken. Unsere gesamte Logistik ist mittlerweile digitalisiert. So erfolgt die Tourenplanung via Tablets, die wir über die Tafel Deutschland anschaffen konnten.
Sie bewegen 16 bis 18 Tonnen Lebensmittel pro Woche. Wer zählt zu Ihren Unterstützern?
Margrit Grebe Die Tafel Norderstedt e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, unabhängig und erhält keinerlei staatliche Zuwendungen. Unser Motto ist: „Lebensmittel retten! Menschen helfen!“ Wir erhalten noch nicht abgelaufene Lebensmitteln aller Art aus den Supermärkten. Gerne können ebenfalls Privatpersonen Spenden, auch Drogerieartikel, in eine der vielen Sammelkisten in unserem Einzugsgebiet legen oder direkt bei uns abgeben. Sammelkisten stehen z.B. bei der Haspa und in vielen Kirchengemeinden.
Wir werden mit Geldspenden unterstützt von der Uwe-Seeler-Stiftung, den Lions und Rotariern. Und von Rotaract, den jungen Rotariern. Sie stellen sich regelmäßig vor die Supermärkte und sammeln Sachspenden mit den Worten: „Bitte ein Teil mehr für die Tafel.“
An mehr als 6200 Pfandrückgabeautomaten in 3200 Filialen können Lidl-Kundinnen und -Kunden ihre Pfandbons an die Tafeln in Deutschland spenden. Der Erlös aus der Lidl-Pfandspende geht an die Tafel Deutschland e.V. Diese schüttet die Gelder an lokale Tafeln aus, die sich zuvor mit besonderen Projekten um die Spenden beworben haben. Hieraus erhalten wir regelmäßig einen Zuschuss für unsere vier Transportfahrzeuge. Nicht zu vergessen die Stadt Norderstedt, die uns hier mietfrei wohnen lässt.
2023 werden Sie umziehen müssen. Die Stadt benötigt die Flächen...
Ingrid Ernst ... und hat bereits zugesagt, uns neue Räume zur Verfügung zu stellen. Mir schwebt eine Halle vor, die wir nach unseren Bedürfnissen einrichten. Nicht so hoch, aber mit einer Waschstraße für die Kästen. Mit Platz für Lagerhaltung und Kühlung, mit einem kleinem Büro, Aufenthaltsraum und Toiletten.
25 Jahre Tafel Norderstedt, den Feierlichkeiten macht Corona derzeit einen Strich durch die Rechnung.
Margrit Grebe Nicht ganz. Die Mitarbeiter der Tafel möchten eine Bank für den Stadtpark stiften und feierlich – unter Einhaltung der Corona-Maßnahmen – aufstellen.
Weihnachten steht vor der Tür. Wie machen Sie die kleinen Kunden glücklich?
Ingrid Ernst Von der Stadt Norderstedt erhalten wir vor Weihnachten immer einen recht großen Geldbetrag und kaufen davon Geschenke für die Kinder – in vorheriger Absprache mit den Müttern. Was übrig bleibt, bekommt der Kindergarten der Falkenbergkirche.
Abschlussfrage: Welcher Leitspruch trägt Sie bei Ihrem Engagement durchs Leben?
Margrit Grebe Einfach kann jeder!
Ingrid Ernst Wie sinngemäß schon gesagt: Wirst du gebraucht, dann musst du es machen.
www.tafel-norderstedt.de