Martin hat einen neuen Jobtitel, und Eva will jetzt selbst Ausbilderin für Mütterpflegerinnen werden. Mattia wird 18, und Paul entscheidet sich gegen ein Studium.

Ein paar Luftballons liegen im Wohnzimmer noch auf dem Boden. Vor ein paar Tagen hatte Mara Geburtstag, sie ist 14 geworden. Nach der Schule haben sie zusammen gegrillt und den halben Nachmittag gespielt. Mit der Spielekonsole, die Mara geschenkt bekommen hat. Eva (44) und Martin (53) Heupel haben lange mit sich gerungen, ob sie den Wunsch erfüllen sollen. Schließlich hat die ganze Familie zusammengelegt.

Heute Nachmittag müssen die Ballons verschwinden, raus aus dem Wohnzimmer. Zwischen 14 und 18 Uhr kommt die Spedition und liefert zehn Kartons an. Es ist ihr neues Sofa, von Ikea. Am Wochenende wollen sie es selbst zusammenbauen. „Mal gucken, wie das klappt“, sagt Martin Heupel. Könne ja nicht schwieriger sein als das Gartenhaus, das sie im Sommer aufgebaut haben. Das ist nicht nur Schuppen für Gartengeräte, sondern ein richtiges kleines Haus mit Fundament, Wänden, Dach, Fenstern und Türen. Eine Art zweites Wohnzimmer. Morgen wollen sie das Ecksofa zerlegen und einen Teil davon aus dem Wohnzimmer ins Gartenhaus schleppen.

„Wenn wir damit überhaupt durch die Tür kommen“, sagt Martin Heupel. Er will das vorher noch mal genau ausmessen. Einfach so machen ist nicht sein Ding, er plant die Sachen lieber vorher gründlich, sehr gründlich. Auch wenn es die anderen in der Familie manchmal nervt. „Evas Motto bei der Arbeit ist: Los geht’s. Meins: Warte mal“, sagt Martin Heupel. Sie sind seit 25 Jahren zusammen. Er arbeitet heute zu Hause, wie fast immer seit Ausbruch der Pandemie vor mehr als eineinhalb Jahren. Doch jetzt läuft die Homeoffice-Zeit langsam aus, Arbeit in der Firma ist wieder möglich, ebenso wie weiterhin Homeoffice. In den vergangenen Jahren war Martin Heupel technischer Projektleiter von Produktentwicklungsprojekten der Johnson & Johnson Medical GmbH. Zuletzt hat er 2020 an der Markteinführung eines Produktes mitgearbeitet, das in der Magenchirurgie eingesetzt wird.

Hergestellt wird das neue Produkt in Norderstedt, nur ein paar Kilometer von Heupels Haus in Tangstedt entfernt. Seit neuestem ist Martin für dieses neue Produkt von der Forschungsseite aus verantwortlich, daher hat sich auch sein Name geändert, wie er es ausdrückt. „Ich heiße jetzt ,Principal Technology Lead‘“, bin aber immer noch derselbe Martin wie vorher … meist gut gelaunt und immer zu Späßen aufgelegt.“

Martin arbeitet an einem Schreibtisch im Schlafzimmer

In den vergangenen eineinhalb Jahren hat er von einem Schreibtisch im Schlafzimmer aus gearbeitet – auch wenn er immer mal wieder in der Produktion war. 95 Prozent des Arbeitslebens haben zu Hause auf dem Dachboden stattgefunden. „Ist schon erstaunlich, dass man damals plötzlich alles von heute auf morgen ins Homeoffice verlagern konnte – oder musste. Vorher wäre das undenkbar gewesen“, sagt Martin Heupel. Wenn er heute auf die Zeit zurückblickt, sagt er, dass sie für die Familie auch gute Seiten hatte. Dass er manchmal nicht gewusst hätte, wie die Kinderbetreuung und Homeschooling im Lockdown geklappt hätten, wenn er nicht zu Hause gewesen wäre. Wenn er den Kindern nicht hätte helfen können und sie auf sich allein gestellt gewesen wären. Wenn es nicht die Flexibilität gegeben hätte, sich die Arbeitszeit frei einzuteilen.

Eva bietet wieder Kurse an – doch es gibt wenig Teilnehmer

Trotzdem, oder gerade deswegen: Er hat seine Kollegen vermisst, den direkten Austausch mit ihnen, den keine Videokonferenz ersetzen kann. Es ist gut, dass er sie jetzt wieder öfter sieht.

Er ist allein im Wohnzimmer, nur die Katzen sind da. Eva ist bei einem Einsatz, wie sie es nennt. Als Mütterpflegerin unterstützt sie Frauen in der Schwangerschaft oder nach der Geburt. Zusätzlich zu einer Hebamme. Es ist ein Herzensprojekt von ihr: Müttern beizustehen, die Hilfe brauchen. Vor dreieinhalb Jahren hat sie die Weiterbildung als Mütterpflegerin gemacht. Mehr als 15 Frauen hat sie seitdem unterstützt – jede von ihnen mit einer Geschichte, einem Schicksal. In den vergangenen Wochen war sie fast jeden Tag im Einsatz, hat nebenbei Kurse in Babymassage gegeben. Nachdem die Kurse coronabedingt lange pausieren mussten, finden seit August wieder welche statt.

Doch der Start war schwer, es haben sich weniger Teilnehmer angemeldet, als gedacht. Sie hat damit gerechnet, dass sie ihre Selbstständigkeit nach der langen Zwangspause neu aufbauen muss. Dass sie wieder neu Werbung machen und bekannt werden muss. Sie hat es ja schon einmal geschafft, warum nicht noch einmal.

Sie ist es gewohnt, Probleme anzupacken, neue Wege zu gehen. So war es auch damals, als sie nach der Geburt der Kinder und der Elternzeit nicht zurück in ihren alten Job als Kinderkrankenschwester ging, sondern als Mütterpflegerin noch mal neu anfing. Bereut hat sie diese Entscheidung nie, im Gegenteil. Sie will jetzt noch einen Schritt weitergehen und selbst Ausbilderin für Mütterpflegerinnen werden.

Paul sagt den Studienplatz ab. Er plant jetzt eine Ausbildung

In den vergangenen Wochen ist viel passiert bei den Heupels. Mattia hat ihren Führerschein gemacht und bereitet sich auf ihren Abschluss vor, in ein paar Wochen schreibt sie schon das Vorabitur – jede Woche eine Klausur. Echt hart, sei das. Sie ist nur noch am Lernen. Und dann ist da ja auch noch ihr Geburtstag. 18! Einfach unglaublich, unvorstellbar. Volljährig, plötzlich erwachsen. Ein Geburtstag voller Verheißung. Sie hat extra einen Raum gemietet, um mit Freunden zu feiern. Sie hofft, dass sie bis dahin wieder fit ist, vor ein paar Wochen hat sie sich beim Handball verletzt.

Paul hat es ebenfalls erwischt. Beim Fußball, beim Hochsteigen zum Kopfball, ist er umgeknickt. Bänderriss. Jetzt muss er zur Physiotherapie und darf nicht trainieren. Eine Zwangspause, das macht ihn ganz kirre. Wenigstens kann er im Studio ein bisschen Gewichte stemmen. So ganz ohne Sport könnte er nicht.

Er hatte viel Zeit zum Nachdenken, es hat sich einiges verändert in der letzten Zeit. Er hat sich jetzt gegen das geplante Fernstudium in Online-Marketing entschieden, mit dem er in diesem Jahr beginnen wollte. Als er sich dafür beworben hatte, schien es optimal zu seiner Selbstständigkeit als Social Media Manager zu passen. Doch seit wegen Corona die Aufträge ausbleiben, hat er das Studium immer mehr infrage gestellt.

Und dann war da auch noch das Geld, fast 10.000 Euro, die die Ausbildung gekostet hätte. „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich das nicht stemmen könnte“, sagt Paul. Er wollte das Studium selbst bezahlen. Ihm ist es wichtig, sein eigenes Geld zu verdienen, selbstständig zu sein.

Aus diesem Grund hat er jetzt auch bei der Investment-Beratung aufgehört, für die er die vergangenen Monate tätig war. Der Einsatz habe sich nicht rentiert, meint er. Er habe keine Zukunft für sich in dem Job gesehen. Jetzt will er sich noch mal neu orientieren, vielleicht eine Ausbildung als Immobilienmakler machen. Mal abwarten, er guckt im Moment in alle Richtungen.

Manchmal nervt ihn das, dass er eineinhalb Jahre nach dem Abi noch nichts hat. Dann wünscht er sich, die Schule hätte ihn besser auf das Leben danach vorbereitet. Klar, irgendwann war mal jemand von der Agentur für Arbeit da, und sie haben verschiedene Praktika gemacht – aber so richtig geholfen bei der Orientierung habe das alles nicht. Er glaubt, da hätte noch ein bisschen mehr passieren müssen.

Mattia will ihren Geburtstag groß feiern. Wird das klappen?

Er hat viele Freunde, die noch keine Ahnung haben, was sie machen wollen. Im Urlaub, als die anderen zuerst auf einem Bauernhof im Schwarzwald und später an der Ostsee waren, ist er mit Freunden für ein paar Tage nach Italien und Spanien gefahren – und hat danach in Tangstedt das Haus gehütet, zusammen mit seiner Freundin. „War super, das Haus mal für sich zu haben“, sagt er und grinst. Ist nicht bös gemeint, er liebt seine Familie, klar. Aber er ist auch gerne alleine und will deswegen nicht lügen: Wenn er könnte, würde er gerne ausziehen. Wenn das Geld nicht wäre!

Seit ein paar Wochen jobbt er auf 450-Euro-Basis in einem Croque-Laden. Das reicht gerade mal so für die laufenden Ausgaben, aber nicht für eine eigene Wohnung. Er hat sich gerade ein Auto gekauft, den alten Wagen seiner Mutter, einen C1 von Citroën, elf Jahre alt. Für Paul ist es ein Stück Freiheit.

Ein paar Tage später: Im Wohnzimmer liegen Luftballons. Wieder. Mattia hatte Geburtstag. Sie hat sich nicht viel gewünscht. Nur eine große Feier. Mit all ihren Freunden. Sie hofft, dass nichts dazwischen kommt. Wegen der Zuspitzung der Corona-Lage in Deutschland soll es bald strengere Regeln geben, auch Kontaktbeschränkungen sind nicht ausgeschlossen. Wann das sein wird, ist noch offen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Wird die Party noch stattfinden können?