Norderstedt. Nach sechs Monaten wird sich nun zeigen, ob die beiden als examinierte Pflegekräfte in Deutschland arbeiten dürfen.
Manchmal, wenn sie in diesen Tagen vor dem großen Tag ihre Dienstkleidung im Keller des Krankenhauses abholen, stellen sich Zahra Khalajani Dinzar (38) und Bahman Taghi Zadeh (31) vor, wie es sein wird, wenn sie die weiße Hose zugeteilt bekommen. Die, die nur examinierte Pflegekräfte tragen dürfen. Und nicht mehr die Grauen für ungelernte Kräfte. Seit sie vor einem halben Jahr nach Deutschland gekommen sind, haben sie bei der Arbeit auf der Station im Krankenhaus die grauen Hosen getragen. Weil ihre Krankenpflege-Ausbildung im Iran hier nicht voll anerkannt wird, mussten sie sechs Monate eine Anpassungsqualifizierung machen. Noch einmal von vorne beginnen, noch einmal Anfänger sein, nachdem sie in ihrer Heimat mehr als zehn Jahre eigenverantwortlich arbeiten konnten. Grau statt weiß. Sechs Monate lang. Jetzt ist die Zeit um.
Pflege-Ausbildung: Die Prüfung rückt näher
Noch drei Wochen bis zur Prüfung: Sie lernen jetzt alleine. In den ersten Wochen, als Zahra und Bahman neu in Hamburg waren und niemanden kannten, haben sie fast alles zusammen gemacht. Sie sind zusammen mit der U-Bahn zur Schule gefahren, haben gemeinsam Hausaufgaben gemacht, Filme geguckt, gekocht, gelernt. Sie waren füreinander da, als sie sonst niemanden hatten. Sie waren Freunde, ein Familienersatz.
Inzwischen hat jeder von ihnen eigene Freunde gefunden, sich ein eigenes Leben aufgebaut. Die Schnittmenge wird kleiner. Selbst beim Lernen. Sie haben unterschiedliche Herangehensweisen. Der einen lernt mit den Unterlagen aus der Schule, der andere mithilfe von Lernvideos im Internet. Der eine lernt zwei bis drei Stunden am Stück, der andere mehrmals täglich in kurzen Einheiten. Irgendwie passt das nicht zusammen. Nur die Angst eint sie. Die Angst, durch die Prüfung zu fallen, nicht zu bestehen. Zu versagen.
Zahra hat die meisten Krankheitsbilder gelernt. Wenn sie die Unterlagen von der Schule durchgearbeitet hat, guckt sie sich bei Youtube Videos zu besonderen Themen an. Blutzucker messen zum Beispiel oder Verbände anlegen. Das gibt ihr Sicherheit. Sie hat das Gefühl, dass sie noch mehr über das Thema Prophylaxen lernen muss.
Auch Bahman arbeitet viel mit Videos. Früher hatte er oft das Gefühl, davon nur einen Bruchteil zu verstehen, jetzt gibt es damit kaum noch Probleme. Immer wieder bittet er die Praxisanleiter auf der Station um Tipps, was er noch verbessern kann. Es reicht ihm nicht, gut zu sein. Er will besser werden.
Noch zehn Tage bis zur Prüfung: Der Druck wird immer größer. In der Schule gab es eine Probeprüfung, beide haben ein positives Feedback bekommen. Die Lehrerin hat gesagt, dass es kein Problem sei, wenn ihnen mal ein Wort fehlt, solange sie den Sachverhalt richtig erklären können. Das hat ein bisschen Mut gemacht. Trotzdem bleibt die Sprache das größte Problem.
Bahman Zadeh ist besser in Deutschland angekommen
Bahman nutzt jede Gelegenheit, um Deutsch zu sprechen. Manchmal spricht er auf der Straße Passanten an und fragt sie nach dem Weg. In den ersten Wochen hat er alles im Handy nachgeschaut, jetzt nicht mehr. Ihm ist es wichtig, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Egal wo. Früher hat er sich darüber gewundert, dass man sich morgens bei Schichtanfang auf der Station nur mit „Guten Morgen“ begrüßt – und sonst kaum miteinander redet. Im Iran sei es üblich, sich nach dem Befinden und der Familie zu erkundigen. Zuerst fand er das Verhalten in Deutschland ein bisschen unhöflich, jetzt hat er sich damit angefreundet.
Wenn er jetzt an zuhause und seine alten Kollegen denkt, kommen ihm die Leute ziemlich neugierig vor. „So ist besser“, sagt er. So kann man besser Arbeit und Privat trennen. Er hat das Gefühl, dass er langsam ankommt. Dass er nicht mehr von zuhause spricht, wenn er den Iran meint.
Er mag Fußgängerampeln, die auf Knopfdruck grün werden. So was kannte er vorher nicht. Viele Sachen in Deutschland faszinieren, begeistern ihn. Nur die hohe Obdachlosigkeit versteht er nicht. Am Langenhorner Markt, ein paar Meter von seiner Wohnung entfernt, gibt es viele Obdachlose.
Er fährt viel herum, guckt sich alles genau an und erzählt seiner Frau davon. Sie kommt wie er aus der Pflege und will bei Asklepios ebenfalls eine Nachqualifizierung machen. Den Arbeitsvertrag hat sie bereits. Nach seiner Prüfung will er für ein paar Tage zu ihr fliegen. Er sagt „zu ihr“. Nicht „nach Hause“. Sein zu Hause ist jetzt hier. Die Wohnung im Iran haben sie verkauft, seine Frau ist wieder bei ihren Eltern eingezogen.
Zahra möchte ihre Familie nach Deutschland holen
Zahra sagt, dass sie sich eingelebt hat. Doch mit den Gedanken ist sie noch im Iran, bei ihren Kindern. Karen (9) und Kian (6). Seit sie weg ist, gibt es immer wieder Probleme. Ihr Mann hat die Jungs aus der Schule genommen und unterrichtet sie zuhause, die Schwiegermutter soll sich um alles andere kümmern. So der Plan. Doch jetzt ist der Schwiegervater krank, ihr Mann muss viel abreiten. Das System wackelt und droht einzustürzen. Zahra kann es kaum ertragen, dass sie von hier aus nichts tun kann.
Irgendwann soll die Familie ihr folgen. Doch niemand weiß, wann das sein wird. Ihr Mann hat im Iran die schriftliche Prüfung für das Deutschzertifikat A1 gemacht, doch es gibt noch keinen Termin für die mündliche Prüfung. Ohne das Zertifikat bekommt er jedoch keinen Termin bei der Deutschen Botschaft.
Wenn Zahra von ihrem Zimmer in der Seniorenwohnanlage aus sieht, wie die alten Leute Besuch von ihren Enkelkindern bekommen, hat sie das Gefühl, die Trennung von ihren Söhnen kaum noch aushalten zu können. Sie skypte jeden Abend mit den Jungs. Sie haben sich verändert. Es ist sechs Monate her, dass sie sie zuletzt gesehen hat, umarmen konnte. Das fehlt ihr. Sie kennt kein Wort, mit dem sie das Gefühl beschreiben kann. In frühestens sechs Monaten kann ihre Familie nachkommen. Wenn sie die Prüfung besteht. Sonst dauert es mindestens noch einmal sechs Monate. Sie muss bestehen. Das sagt sie sich immer wieder.
Die erste Patientenübergabe in Eigenverantwortung
Noch drei Tage bis zur Prüfung: An diesem Morgen hat sie kaum Appetit. Seit sie in Deutschland lebt, isst sie morgens Brot mit Marmelade. Sie mag den süßen Aufstrich. Nur heute nicht. Heute ist die Probeprüfung. Die Praxisanleiter der Abteilung Integration, die für die Akquise und Integration von internationalen Pflegekräften gegründet wurde, wollen mit den Prüflingen noch mal verschiedenen Fälle und Krankheitsbilder durchgehen und mit ihnen die strukturierte Übergabe in der Pflege üben. So wie sie jeden Tag zwischen den verschiedenen Schichten stattfindet.
Zahra und Bahman waren auf ihren Stationen mehr als 100 mal bei diesen Übergaben dabei. Doch heute müssen sie diese zum ersten Mal eigenverantwortlich machen - so wie in der Prüfung diese Woche. Auf jedem Tisch liegt eine Patientenakte mit Arztbericht, Medikamentenübersicht und einer Verlaufskurve mit Angaben zu Puls, Temperatur, Sauerstoffsättigung und zu den schmerzen des Patienten. „Wie ihr sehen werdet, hat der Patient viele Diagnosen. Nicht alle sind für seinen Krankenhausaufenthalt relevant. Ihr müsst erfassen, was wichtig ist und das euren Kollegen bei der Übergabe mitteilen“, sagt Christopher Kuhn.
Er ist einer von vier Praxisanleitern der Asklepios Kliniken Hamburg, die sich um die praktische Anleitung der internationalen Pflegekräfte kümmern. Dafür sind er und seine Kollegen jeden Tag auf einer Station und üben mit den Pflegekräften aus dem Ausland Pflegetätigkeiten am Patienten. Sie leiten an, passen auf und greifen im Notfall ein. Sie nennen das: Wie in der Fahrschule.
Internationale Pflegekräfte lernen „wie in der Fahrschule“
„Orientiert euch am besten am SBAR-Schema“, erinnert Christopher Kuhn die Prüflinge und verteilt einen Zettel, auf dem die Eckpunkte noch einmal aufgeführt sind. S wie Situation. B wie Background (Hintergrund). A wie Assessment (Einschätzung). R wie Recommendation (Empfehlung). „Ihr habt 20 Minuten Zeit!“
Bahman greift zum Arztbericht. Seine Augen fliegen über das Papier. Immer wieder markiert er Wörter und übernimmt sie in seinen Bericht. Hektisch blättert in den Unterlagen hin und her. Wie ist die Temperaturkurve? Was lässt sich daraus ableiten, dass der Patient plötzlich Fieber bekommen hat? Welche Maßnahmen müssen getroffen werden? Er schreibt und schreibt.
Zahra sitzt auf dem Platz vor Bahman. Sie hört, wie sein Stift über das Papier kratzt. Sie hat noch kein Wort geschrieben. Sie ist unsicher. Dann hebt sie die Hand: „Darf ich kurz in meine Wohnung gehen?“, fragt sie und steht bereits auf. Sie muss raus hier. Ein paar Minuten später kommt sie wieder. Es geht ihr nicht gut, sagt sie. Christopher Kuhn nickt, er weiß um Zahras Situation. Um den Druck, den sie sich macht.
Zahra greift zum Stift. Sie markiert Wörter im Arztbrief, schreibt sich Stichworte auf. Sie ist die einzige, die heute ihre Dienstkleidung trägt. Sie mag das. Weil es zeigt, wer sie ist. Die anderen tragen Jeans und T-Shirts.
Leistungen sind gut genug für die Prüfung
Fünf Minuten noch. Bahman überfliegt seine Notizen, Zahra massiert sich die Schläfen. Sie kann sich nicht konzentrieren, hat zu viele Sachen im Kopf. Zuhause ist etwas passiert.
Dann ertönt die Glocke, die Zeit ist um. „Ich bin nicht fertig“, sagt Zahra und blickt unschlüssig auf ihr DIN A4 Blatt, auf dem nur ein paar Wörter stehen. Christopher Kuhn beruhigt sie. „Wir gehen das jetzt gemeinsam durch“, sagt er und zieht sich mit ihr in einen Nebenraum zurück.
Er weiß, dass Zahra das Wissen hat. Schon ein paar Mal hat er auf der Station alles mit ihr geübt. Da waren ihre Leistungen in Ordnung, ausreichend für die Prüfung. Langsam geht er mit ihr jeden Punkt durch. Wie sind die Vitalzeichen? Woran kann sie merken, dass der Patient eine Infektion hat? Was ist in dem Fall zu tun? Wen muss sie informieren? Zahra nickt, schreibt mit, fragt nach. Sie stolpert über ein paar Abkürzungen, die sie längst konnte, aber wieder vergessen hat. „Oh mein Gott“, murmelt sie. Dann ist keine Zeit mehr.
Zahra bekommt schlechte Nachrichten von Zuhause
Die Prüflinge sollen ihre Ergebnisse vor den anderen präsentieren. Bahman ist als erster dran. Er tritt sicher auf, rattert Diagnosen und Therapien auf, verzettelt sich dann aber in unwichtigen Informationen. „Konzentriert euch auf das Wesentliche“, erinnert Christopher Kuhn und rät: „Übt den Vortrag vor dem Spiegel.“ Kuhn hat gute Neuigkeiten für Bahman, sie betreffen seine Frau. „Wir haben jetzt für deine Frau...“, setzt er an, doch Bahman unterbricht ihn. „Vielen Dank für die Mühe“, sagt er höflich. „Aber erst die Prüfung. Dann die Frau.“
Zahra wird als nächstes aufgerufen und soll ihre Ergebnisse präsentieren. Doch sie winkt ab. „Ich kann nicht“, sagt sie und steht auf. Dann geht sie wortlos aus dem Raum. Sie hat schlechte Nachrichten von ihrer Familie bekommen. Ihre Schwiegermutter ist an Covid erkrankt. Und ihre Kinder haben ebenfalls Symptome.
Bevor es ernst wird, gibt es eine Prüfungssimulation
Noch zwei Tage bis zur Prüfung: Heute haben sie keinen Dienst. Auf der Station sind sie trotzdem, zusammen mit den Praxisanleitern. Sie führen eine Prüfungssimulation am Patienten durch. Das heißt: Sie müssen dem Anleiter einen Patienten und seine Krankengeschichte vorstellen, ein Übergabeprotokoll erstellen und Pflegetätigkeiten am Patienten demonstrieren. Genauso, wie es in der Prüfung sein wird.
Zahra hat Probleme. Die Patientin, auf die sie sich vorbereitet hatte, wurde verlegt. Sie muss sich einen anderen Fall suchen und neu einarbeiten. Sie fühlt sich überfordert.
Die Anleiter kontrollieren jeden Schritt und geben ein Feedback - ob die Prüfung mit dieser Leistung bestanden worden wäre - oder nicht. Zahra brauch keine Einschätzung. Sie weiß selbst, wie es gelaufen ist.
Morgen ist es soweit, die Prüfung steht an
Noch ein Tag bis zur Prüfung: Zahra und Bahman bekommen für die morgige Prüfung einen unbekannten Patienten zugeteilt – inklusive dessen Krankenakte. Jetzt bleiben ihnen knapp 24 Stunden Zeit, um Arztberichte und Laborwerte zu studieren, ein Übergabeprotokolle zu schreiben und eine Pflegeplanung zu erstellen. Sie sind auf sich allein gestellt.
Der Tag der Prüfung: Bahman hat schlecht geschlafen, gerade mal zwei Stunden diese Nacht. Immer wieder ist er hochgeschreckt, im Kopf alles durchgegangen. Er ist perfekt vorbereitet, so scheint es. Doch als es soweit ist, um acht Uhr morgens, versagen bei ihm die Nerven. Doch er schafft es. Bahman Taghi Zadeh besteht die Prüfung. Er ist jetzt anerkannte Pflegekraft.
Zahra weiß nichts davon, als sie im Krankenhaus ankommt. Sie ist erst nach Bahman dran, um 10 Uhr. Viel Hoffnung hat sie nicht. Sie hat gemerkt, wie schwer ihr alles in den letzten Tagen gefallen ist. Zwei Stunden dauert die Prüfung. Als Zahra das Ergebnis mitgeteilt bekommt, fängt sie zu weinen an. Die Prüferin nimmt sie in den Arm. Alles wird gut! Sie hat bestanden.