Norderstedt. Menschen mit gesetzlichem Betreuer waren bislang ausgeschlossen. Lebenshilfe: “Wahlrecht ist Grundlage der Demokratie.“
Nicht nur junge Erwachsene werden am Sonntag zum ersten Mal ein Wahllokal betreten und bei der Bundestagswahl abstimmen – auch Menschen, die längst das 30. oder gar 50. Lebensjahr überschritten haben, zählen zu den Erstwählerinnen und -wählern.
In diesem Jahr haben mehr als 85.000 Deutsche mit einer Behinderung, für die das Gericht einen Betreuer in allen Lebensbereichen bestellt hat, erstmals das Recht, ihre Stimme abzugeben. Der bisher gültige Wahlrechtsausschluss wurde 2019 vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Dies gilt auch für Straftäter, die wegen Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht sind.
Bundestagswahl: "Wahlrecht ist Grundlage der Demokratie"
„Es wurde Zeit“, sagt Alexandra Arnold, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Schleswig-Holstein. Die Lebenshilfe hat jahrelang dafür gekämpft, dass auch geistig behinderte Menschen an Wahlen teilnehmen dürfen. „Es ist Grundlage unserer Demokratie, dass jeder Mensch über unsere Regierung mitbestimmen darf. Ich finde es erstaunlich, dass dieses Recht auf eine bestimmte Personengruppe für eine so lange Zeit nicht angewendet wurde“, sagt Alexandra Arnold.
In der Tat: Die bewusste Ausgrenzung hätte schon lange nicht mehr existieren dürfen. Denn die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in der Bundesrepublik ratifiziert ist, garantiert Menschen mit Behinderung die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. Erst zehn Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht den entsprechenden Ausschlussparagrafen aus dem Grundgesetz gestrichen.
Neu gewonnene Teilhabe: Noch gibt es ein paar Tücken
Das Wahlrecht haben nun alle Menschen, die erste Bundestagswahl steht bevor – doch in der Umsetzung gibt es noch ein paar Tücken, wie ein Fall aus Norderstedt zeigt. Eine Frau mit Down-Syndrom hat keine Wahlbenachrichtigung erhalten. Dabei möchte sie am Sonntag gerne ihr Kreuz setzen, mitbestimmen und sich dazugehörig fühlen. Ihr gesetzlicher Betreuer, der gern anonym bleiben möchte, meldete den Brief beim Wahlamt als vermisst – dabei stellte sich heraus, dass dort offenbar immer noch ein Vermerk hinterlegt war, dass seine Tochter wegen ihrer geistigen Beeinträchtigung gerichtlich vom Wahlrecht ausgeschlossen sei.
Der Vater wandte sich daraufhin an das Amtsgericht Norderstedt, das ihm bestätigte, dass alle Menschen mit Behinderung seit 2019 wahlberechtigt seien. Also auch seine Tochter. Der Vermerk im Wahlamt besteht aber nach wie vor. „Alle Beteiligten waren sehr bemüht und konstruktiv. Wir hoffen, dass bis Sonntag alles geklärt werden kann und meine Tochter wählen darf“, sagt der Vater, dem es vor allem um Teilhabe und Gleichberechtigung geht.
Menschen mit Behinderung im Bundestag unterrepräsentiert
„Rein theoretisch müssten alle Menschen eine Wahlbenachrichtigung erhalten haben“, sagt Alexandra Arnold von der Lebenshilfe. Aber da die Bundestagswahl in dieser Form zum ersten Mal stattfinde, ruckele es noch an einigen Stellen. „Die Behörden müssen Fragen für sich klären wie: Ist der gesetzliche Betreuer anzuschreiben? Oder die wahlberechtigte Person? Oder beide? Da kann es schon einmal zu logistischen Fehlern kommen“, meint Arnold.
Nils Bollenbach, Grünen-Spitzenkandidat im Wahlkreis 8 Segeberg/Stormarn-Mitte, hält es für längst überfällig, dass alle Menschen wählen dürfen. Der 20-Jährige weiß, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben. Er selbst hat das Asperger-Syndrom, eine spezielle Form des Autismus. „Im Parlament sind Menschen mit Behinderung unterrepräsentiert und wählen durften bis vor Kurzem auch nicht alle. Für mich ist das nun ein großartiger Schritt in die richtige Richtung“, sagt Bollenbach. Als er die vorigen Jahre als Helfer im Wahllokal tätig war, hat beobachtet, wie Eltern wählen durften, ihre erwachsenen Kinder mit geistiger Behinderung, die sie begleiteten, aber nicht. „Das hat zu großen Konflikten geführt.“
"Wir achten darauf, dass die Wahllokale möglichst barrierefrei sind"
Die Stadt Norderstedt begrüßt das inklusive Wahlrecht. „Das Thema Inklusion ist uns sehr wichtig – wir achten darauf, dass auch die Wahllokale am Sonntag möglichst barrierefrei sind“, sagt Stadtsprecher Fabian Schindler. Menschen, die bei ihrer Stimmabgabe Hilfe benötigen, dürfen eine Wahlassistenz in Anspruch nehmen, die beispielsweise auf Ansage des Wahlberechtigten ein Kreuz setzt oder den Zettel vorliest.
Wie viele Menschen mit Behinderung an der Bundestagswahl teilnehmen, wird sich zeigen. „Einige sind ganz heiß darauf – andere haben Wahlpost bekommen und fragen sich, was das ist“, sagt Alexandra Arnold. „Wir müssen Aufklärungsarbeit leisten und ein Bewusstsein schaffen. Das wird einige Jahre dauern.“