Kreis Segeberg. Zahra Khalajani Dinzar und Bahman Taghi Zadeh werden in der Asklepios Klinik Nord-Heidberg zu Pflegekräften ausgebildet.
Sie muss sich beeilen, sie ist spät dran. Auf der Station war viel zu tun und sie ist nicht pünktlich losgekommen. Jetzt ist es schon kurz nach 11 Uhr, vor ein paar Minuten hat der Unterricht begonnen. Sie mag es nicht, wenn sie zu spät kommt. Im Laufschritt eilt sie durch die Gänge, vorbei an der Kinderstation und den Fahrstühlen. Ihre weißen Skechers quietschen leise auf dem Linoleum Fußboden. Sie nimmt den Hintereingang der Notaufnahme, überquert die Rettungswagen-Einfahrt und reißt die Tür zu Haus 12 auf. Die Tür von Raum 120 ist zu. Leise schlüpft Zahra Khalajani Dinzar (38) hinein, gleitet auf einen Stuhl neben dem Eingang und schlägt ihr Buch auf. Darauf steht: Deutsch B1/B2 in der Pflege: Für Fachkräfte im Anerkennungsverfahren.
Das Sprachniveau reicht für die Integration nicht aus
Sabine Pinnau (53) hat bereits auf ihre Schülerin gewartet. Seit fünf Monaten gibt sie Zahra Deutschunterricht - so wie den anderen internationalen Pflegekräften der Asklepios Klinik Nord-Heidberg. 35 Schüler hat sie derzeit. Bis vor einem Jahr war sie einmal pro Woche in der Klinik, um die Pflegekräfte zu unterrichten und auf ihre Anerkennungsprüfung vorzubereiten. Inzwischen ist sie jeden Tag da und fest angestellt. Es gibt viel zu tun. Denn die Zahl der internationalen Pflegekräfte steigt seit Jahren kontinuierlich. 2013 lag der Anteil noch bei 6,8 Prozent (74.108 Beschäftigte), sechs Jahre später waren es doppelt so viele.
Der Pflegenotstand ist groß. Experten gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2030 in Deutschland bis zu 500.000 Vollzeit Kräfte fehlen. Aus diesem Grund werden immer mehr Mitarbeiter im Ausland angeworben, viele Krankenhäuser haben inzwischen eigene Abteilungen, die sich um die Akquise und Integration von ausländischen Pflegekräften bemühen - so wie die Asklepios Klinik Nord-Heidberg.
„Am Anfang hat man mit ein paar internationalen Pflegekräften jährlich gerechnet - inzwischen sind es mehrere Dutzend pro Jahr“, sagt Stefanie Ludwig (51), Leiterin des Asklepios-Willkommenszentrum Hamburg und der Abteilung Integration der Asklepios Klinik Nord. In den vergangenen zwei Jahren haben sie und ihre Mitarbeiter fast 100 Kräfte aus dem Ausland angeworben und eingegliedert.
Ausbildung zu Pflegekräften bei Asklepios
So wie Zahra Khalajani Dinzar und Bahman Taghi Zadeh (31). Sie ließen ihre Familien im Iran zurück, um in der Asklepios Klinik Nord-Heidberg als anerkannte Pflegekräfte nachqualifiziert zu werden. Denn obwohl beide in ihrem Heimatland Pflege studiert und schon Jahrelang in dem Beruf gearbeitet haben, wird ihre Ausbildung in Deutschland nicht voll anerkannt. Aus diesem Grund müssen sie eine etwa sechsmonatige Anpassungsqualifizierungsmaßnahme machen, um Defizite auszugleichen. In der Zeit arbeiten sie auf einer Station im Krankenhaus, gehen zur Berufsschule und belegen Sprachkurse.
„Die Sprache ist eins der größten Probleme“, sagt Sabine Pinnau. Im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat sie jahrelang Deutsch- und Integrationskurse gegeben. „Je länger ich Deutsch unterrichte, um so klarer wird mir, wie schwierig die Sprache ist“, sagt die Lehrerin. Das fange schon mit den verschiedenen Vorsilben an. Aufgehen, zugehen, abgehen, hingehen, weggehen. Oder: anziehen, aufziehen, hinziehen, abziehen, wegziehen, runterziehen. Wenn sie sieht, wie sich ihre Schüler abmühen, hat sie manchmal Mitleid.
Zahra und Bahman haben im Iran bereits das Goethe Sprachzertifikat B2 gemacht. Es ist Voraussetzung für internationale Pflegekräfte. Rund 1000 Stunden Unterricht hat jeder von ihnen absolviert. Das Sprachzertifikat B2 bescheinigt ein „fortgeschrittenes Sprachniveau“. Laut des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen bedeutet das, dass man sich spontan und fließend verständigen kann, ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung möglich ist und Hauptinhalte komplexer Themen erfasst werden können. So die Theorie.
Asklepios setzt auf intensive Nachschulungen
Als Zahra und Bahman im März nach Deutschland gekommen sind, dachten sie, gut deutsch zu sprechen. Inzwischen denken sie das nicht mehr. Sie haben in den letzten Monaten erlebt, dass die Sprachkenntnisse, die sie in ihrer Heimat erworben haben, ihnen im Alltag in einem neuen Land oft kaum helfen. „Kein Sprachunterricht auf der Welt bereitet die Schüler auf die Sprache vor, die tatsächlich gesprochen wird“, sagt Stefanie Ludwig.
„Meistens dauert es ein Jahr in Deutschland, bis die Pflegekräfte tatsächlich das Sprachniveau erreicht haben, dass sie laut Zertifikat schon vorher gehabt haben sollten“, so Stefanie Ludwig. „Oft entspricht ein B2 aus dem Ausland unserem B1“, so die Erfahrung des Asklepios Willkommenszentrum Hamburg, das auf eine Intensive Nachschulung der Kräfte setzt.
Experten der Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung (GQMG) haben die aktuellen Anforderungen an die Sprachkompetenz inzwischen als unzureichend bewertet. Das Sprachniveau ausländischer Pflegefachpersonen reiche nicht aus, um eine erfolgreiche Integration zu realisieren. Die GQMG fordert daher, die Anforderung des Sprachniveaus bundeseinheitlich auf die Kompetenzstufe C1 zu erhöhen. C1 ist Voraussetzung für ein Hochschulstudium in Deutschland.
Deutschunterricht für das Leben da draußen
Sabine Pinnau ist es wichtig, ihre Schüler auf das Leben draußen vorzubereiten, wie es nennt. Ein Leben, in dem Patienten Kohldampf haben oder ihr Magen in den Kniekehlen hängt. In dem Menschen Bäume ausreißen können oder auf dem Zahnfleisch gehen. Aus diesem Grund thematisiert sie in jeder Einheit Redewendungen und Umgangssprache.
Heute geht es um Redewendungen mit „Nase“. Sabine Pinnau schreibt den ersten Begriff an ein Flipchart: „Sich an die eigene Nase fassen“. Dann guckt sie Zahra und Bahman erwartungsvoll an. „Was könnte das bedeuten“, fragt sie, doch niemand antwortet. Die Dozentin nickt, erklärt, schreibt neue Redewendungen auf. Die Nase voll haben. Die Nase in alles hineinstecken. Pro Nase. Hochnäsig. Bahman und Zahra fragen nach, schreiben mit. Die meisten Begriffe sind für sie neu. Nach ein paar Minuten beendet Sabine Pinnau den Unterrichts-Teil. „Sonst wird es zu viel“, weiß sie und verteilt Arbeitsbögen.
Zahn- und Mundpflege steht auf dem Papier. „Welche Wörter kennst Du zu dem Thema?“, fragt Pinnau. Sie sagt Du zu ihren Schülern, das ist leichter zu verstehen. Ein Sie sorgt oft für Missverständnisse, weil viele dann an Personalpronomen denken. Für Bahman und Zahra ist das ok. Sie selbst würden andere, Fremde, aber nie duzen. Sie sprechen alle mit Sie an. Etwas anderes käme ihnen unhöflich vor.
Zahra und Bahman machen Fortschritte
Zahra hat die Frage von Sabine Pinnau nicht verstanden. Bahman antwortet: „Oberkiefer, Unterkiefer, Zähne.“ Er hat bereits angefangen, den Zettel auszufüllen. Die Zeichnung eines geöffneten Mundes soll beschriftet werden. Die passenden Begriffe stehen unter dem Bild und sollen richtig zugeordnet werden. „Der Rachen“, setzt Zahra als erstes ein. Dann hakt sie „die Schneidezähne“ und „die Backenzähne“ auf der Liste ab. Die Wörter mit Zahn fallen ihr leicht, die kennt sie, die anderen nicht. „Ich kann nicht mehr“, sagt sie und legt den Stift zur Seite. Bahman schreibt weiter. Er kann fast alles zuordnen, nur „das Gaumenzäpfchen“ nicht.
Sabine Pinnau hilft. Dann geht es weiter. Die Aufgabe „Zähne bei Kindern“ überspringt sie. „Ihr habt ja beide nicht viel mit Kindern auf der Station zu tun“, sagt sie. Bahman arbeitet auf der H51, der Neurochirurgie. In den letzten Wochen hat er immer wieder gesagt, dass er nach seiner Anerkennung, nach der Prüfung, wieder auf der Intensivstation arbeiten möchte, wie zuhause im Iran. Heute sagt er das nicht mehr. „Nicht Intensiv. Ich möchte lieber da bleiben“, sagt er und meint auf der H51 Er habe dort viele nette Kollegen, das reicht ihm. Zahra arbeitet auf der Inneren. „Ich habe Fortschritte gemacht. Ich kann besser sprechen mit den Kollegen“, sagt sie und meint: sich verständigen, andere verstehen.
Bahman möchte wählen dürfen. Er will dazugehören
Der Sprachunterricht geht weiter. Zahra und Bahman sollen abwechselnd einen Text zum Thema Zahnpflege vorlesen. „Was ist Lippenbalsam“, fragt Bahman. „Ein Lippenstift“, sagt Sabine Pinnau und fährt sich über die Lippen. Bahman stutzt. „Lippenstift?“. Sabine Pinnau lacht: „Mit Creme, zur Pflege der Lippen“, erklärt sie und greift den nächsten Begriff auf: „Zahnersatz“. „Das wird oft auch Zahnprothese genannt. Oder dritte Zähne. Alte Menschen sagen oft auch nur Gebiss.“ Sie weiß, dass genau das die Tücken sind.
Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Theorie lernen die meisten Schüler oft nur einen Begriff für ein Wort - in der Praxis gibt es Dutzende dafür. „Und genau die verstehen die Pflegekräfte dann nicht und sind frustriert“, sagt Sabine Pinnau. Immer wieder bindet sie Zahra und Bahman ein, fragt, wie sie mit den Patienten über das Thema sprechen? „Was sagt ihr zu ihnen, wenn ihr Zähne putzen wollt? Wie erklärt ihr ihnen, was ihr machen müsst?“ „Wenn jemand ein Gebiss hat, sage ich, er muss es rausgeben.“ Sabine Pinnau lächelt und korrigiert: „Rausnehmen.
Erst Einbürgerungstest, dann Staatsbürgerschaft
Sie ist zufrieden mit den beiden, sie sind ziemlich fit in dem Thema. Nächste Woche will sie mit ihnen über Politik reden. Sie findet es wichtig, dass ihre Schüler auch in dem Thema sicher sind - auch wenn es nicht bei der Prüfung abgefragt wird. „Schließlich wird in Deutschland bald gewählt“, erklärt sie. Bahman horcht auf. „Darf ich auch wählen“, fragt er. Die Vorstellung reizt ihn. Es wäre ein Zeichen, dass er dazugehört. Angekommen ist. „Das dürfen nur deutsche Staatsbürger“, sagt Sabine Pinnau. „Wenn ich Passport habe?“, fragt Bahman nach. Die Lehrerin nickt. „Nach etwa fünf bis sieben Jahren kannst du das beantragen. Dafür musst du aber zuerst einen Einbürgerungstest machen.“ Bahman fragt: „Gibt es eine App, mit der ich das lernen kann.“ Er will sofort damit anfangen, zusammen mit seiner Frau.
Shahla ist im Iran geblieben, als er nach Deutschland gekommen ist. Doch sie will ihm folgen, so bald wie möglich. Sie hat bereits ihr Sprachzertifikat gemacht und von allen erforderlichen Unterlagen beglaubigte Kopien anfertigen lassen. Ein paar hundert Euro hat das gekostet. Die Asklepios Klinik hat bereits einen Arbeitsvertrag für sie ausgestellt und die Dokumente an das Hamburger Welcome Center geschickt, das nach Prüfung der Unterlagen wiederum die Deutsche Botschaft im Iran kontaktieren wird.
Zahras Kinder lernen im Iran bereits Deutsch
Bis Shahla nach Deutschland kommt, kann es jedoch bis zu zwei Jahre dauern. „Es sei denn, man beantragt ein beschleunigtes Verfahren“, sagt Stefanie Ludwig. Sie und ihr Team leiten für alle Fachkräfte dieses Verfahren in die Wege. 411 Euro muss die Klinik dafür zahlen. „Dafür kann die internationale Pflegekraft dann aber auch schon in drei Monaten bei uns sein“, sagt Ludwig. Sie weiß, dass Bahman die Tage zählt. Vor ein paar Tagen hatte Shahla Geburtstag, sie ist 29 Jahre alt geworden. Bahman ist zu Media Markt gefahren, um ihr ein Geschenk zu kaufen. Ein iphone 12. Es hat knapp 1000 Euro gekostet. Er will ihr damit zeigen, wie sehr er sie liebt. Wenn er etwas von seinem Gehalt kauft, ist es meistens für seine Frau.
Seit er weg ist, lebt Shahla wieder bei ihren Eltern. Ihre Wohnung haben sie verkauft, für etwa 10.000 Euro. Einen Teil des Geldes haben sie in ihre Auswanderung investiert, in Sprachkurse, Vermittlungsgebühren und die Beschaffung der Dokumente. Es lohnt sich, glauben sie. Dafür haben sie alles aufgegeben. Zahra hat ihre Mann und ihre Söhne Kian (6) und Karen (9) im Iran zurückgelassen. Vorerst. Sie hofft, dass sie nächstes Jahr nachkommen können. Die Kinder lernen jetzt schon deutsch. Jede Woche drei Stunden, bei einer Privatlehrerin. 6 Euro nimmt diese pro Stunde.
Zahra hofft, dass die Jungs es leichter haben, wenn sie nach Deutschland kommen. Sie lernt jeden Tag für ihre Abschlussprüfung. Sie muss bestehen. Das sagt sie sich immer wieder. Sonst wird ihre Familie noch später nachkommen. Es sind noch drei Wochen bis zur Prüfung.