Bad Bramstedt. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben und Geschichten entdeckt, die in Vergessenheit geraten waren.
Den kleinen Wald an der Bundesstraße 4 kennen nur die Einheimischen. Während in den Forsten des Bramstedter Kurgebiets und den Auenlandschaften viele Spaziergänger, Jogger und Radfahrer unterwegs sind, herrscht hier am Neubaugebiet Bissenmoor Ruhe, die nur durch den Autolärm gestört wird. Dabei gäbe es hier für Bramstedter, Kurgäste und andere Besucher Interessantes zu entdecken: die Reste einer kunstvoll verzierten steinernen Bank, auf der vermutlich einst der junge Karl Lagerfeld gesessen hat, und Reste des Tores, das zum Gutshaus der Familie gehörte.
Karl Lagerfeld lebte nach dem Zweiten Weltkrieg in Bad Bramstedt
Joachim Ribbeck wohnt in Bissenmoor und weiß durch seine Kontakte in der Stadt viel über Lagerfeld, der während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach Teile seiner Kindheit und Jugend mit seiner Familie in dem Gutshaus lebte, das dort stand, wo sich heute der kleine Wald erstreckt. Von dem vor Jahrzehnten abgerissenen Gebäude sind nur die Reste des Tors und der Bank übrig. Auf dem Waldboden kann man nur noch erahnen, wo die Mauern gestanden haben könnten.
Nur ein Stromkasten am Waldrand erinnert daran, dass hier das 2019 gestorbene weltberühmte Modegenie gelebt hat, bevor es Anfang der 50er-Jahre nach Paris ging, um dort seine Weltkarriere zu starten. Schüler haben den grauen Verteilerschrank mit dem Porträt Lagerfelds bemalt. „Er hatte klare Ziele, und die hat er auch erreicht“, sagt Ribbeck. „Er ist ohne Abitur abgehauen. Das war sicher ein dunkler Punkt in der Familiengeschichte.“
Mehr Details über die Lagerfelds und die Entwicklung des jungen Karls wird aller Wahrscheinlichkeit nach demnächst die Autorin Heike Koschyk präsentieren, die exklusiv das Familienarchiv auswerten darf und ein Buch darüber schreiben wird. Vor wenigen Wochen berichtete die Norderstedt-Ausgabe über dieses Projekt und schrieb, dass Lagerfeld nach seinem Wechsel nach Paris nie wieder zurückgekehrt ist. „Das ist so nicht richtig“, sagt Ribbeck. Auch andere Bramstedter haben sich in der Redaktion gemeldet, die den Star Jahrzehnte danach in der Stadt gesehen haben.
Lagerfeld kam mit Mannequin Inès de la Fressange
Einer von ihnen ist Horst Ebeling, Seniorchef des Hotels „Bramstedter Wappen“. „Mitte der 80er-Jahre, es dürfte 1985 gewesen sein, kehrte nachmittags eine fröhliche Gesellschaft von etwa zehn Personen in unserem Restaurant und Café ein“, erzählt Ebeling. „Karl Lagerfeld mit seinem damaligen Star-Mannequin Inès de la Fressange und seinen Mitarbeitern waren auf der Durchreise. Die Truppe war zu einem Foto-Shooting auf Gut Schierensee bei Kiel unterwegs.“
Ebeling hatte den berühmten Gast zunächst gar nicht bemerkt. Seine Tochter, die im Restaurant bediente, erkannte ihn und ging zu ihrem Vater mit den Worten: „Da sitzt Karl Lagerfeld!“ Vor der Tür standen luxuriöse Cabrios.
Ebeling: „Ich begrüßte Karl Lagerfeld, den ich aus der Zeit am Jürgen-Fuhlendorf-Gymnasium in Bad Bramstedt kannte. Wir hatten in der Theatergruppe der Schule zusammen einige Male im Kaisersaal auf der Bühne gestanden.“ Gemeinsam hatten sie bei „Tartuffe“ von Molière bei Abiturientenbällen und Abschlussfeiern gespielt.
Lagerfeld habe seinen Freunden auch die „Villa Bissenmoor“ zeigen wollen, wo er mit seiner Familie bei Kriegsende gewohnt hatte, doch das Gebäude war abgerissen worden.
Wie oft kam Lagerfeld nach Bad Bramstedt zurück?
Ebeling überreichte seinem Gast ein Foto des herrschaftlichen Hauses. „Die Freude bei der Truppe war groß“, erinnert sich Ebeling. Die Männer unterhielten sich während der Kaffeepause 40 Minuten lang. „Er hatte viele Fragen zu Lehrern, Familien, Gebäuden, Veränderungen und Entwicklungen in Bad Bramstedt. Ich konnte ihm viel erzählen“, berichtet der Hotelier. Karl Lagerfeld sei sehr neugierig gewesen. „Er war ganz normal und überhaupt nicht arrogant.“ Ebeling ist sicher, dass Lagerfelds überhebliches Auftreten in Fernsehsendungen Teil einer Inszenierung seiner Person gewesen sei.
Der Kaffeeplausch im Hotel war nicht die einzige Begegnung zwischen den einstigen Schulkameraden Ebeling und Lagerfeld. Irgendwann in den 70er-Jahren sei er an der Jürgen-Fuhlendorf-Schule vorbeigekommen, die sich damals im heutigen Gebäudekomplex der Grundschule am Bahnhof befand. Auf dem Schulhof drehte ein offenes VW Cabrio seine Kreise, im Wagen saß Karl Lagerfeld. „Ich habe gedacht: Das darf doch nicht wahr sein“, sagt Ebeling.
Der Modeschöpfer hatte eine schwere Kindheit
Diese Episoden sind auch Alfons Kaiser neu. Der Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kannte den Modeschöpfer persönlich und hat im vergangenen Jahr eine umfangreiche Biografie veröffentlicht. Er spricht von einer Hassliebe, wenn er das Verhältnis Lagerfelds zu Bad Bramstedt erklärt. Jahrelang hatte der Modeschöpfer öffentlich ehemalige Schulkameraden in Talkshows beleidigt und war Fragen nach Bad Bramstedt ausgewichen. Gleichzeitig zog es ihn offenbar in die Kleinstadt zurück, wie die Schilderungen Ebelings belegen.
„Das war Nostalgie, auch wenn er das nicht so richtig wahrhaben wollte“, sagt Kaiser. Erst spät habe sich Lagerfeld mit seiner Vergangenheit im Norden Deutschlands versöhnt. Als sichtbares Zeichen dafür wertet Kaiser Lagerfelds Präsentation Métiers d’Art des Modehauses Chanel in der Elbphilharmonie in Hamburg im Dezember 2017.
Kaiser ist überzeugt, dass Lagerfeld eine schwere Kindheit und Jugend hinter sich hatte. Das lag zum einen an seinem überaus ehrgeizigen Vater, dem reichen Dosenmilch-Fabrikanten Otto Lagerfeld, der den Vorlieben seines Sohnes für Kunst und Ästhetik nichts abgewinnen konnte. Außerdem lebte der junge Lagerfeld mit seinen Talenten fürs Zeichnen und der Vorliebe für Puppenankleiden zwischen den Bramstedter Jungs als Außenseiter.
„Er wurde gehänselt, und man hat ihm nachgestellt“, sagt Kaiser. „Lagerfeld wurde in seiner Jugend traumatisiert.“ Diese Zeit war es, die offenbar zum Bruch mit der Familie und dem Start eines neuen Lebens in Paris führte.
Lagerfeld gab früher ein falsches Geburtsdatum an
Bewiesen ist diese These jedoch nicht. „Er wollte nicht über seine Vergangenheit in Bad Bramstedt sprechen“, sagt Kaiser. Auch für Erklärungen, warum sich Lagerfeld öffentlich jünger rechnete als er war, fehlen Belege. Der kleine Karl wurde am 10. September 1933 geboren, doch er selbst gab als Geburtsjahr lange Zeit 1938 an, später 1935. Kaiser vermutet, dass Lagerfelds Darstellung nicht in persönlicher Eitelkeit zu suchen sind.
Er glaubt außerdem, dass Lagerfeld sich jünger gemacht hat, um im Paris der 50er-Jahre nicht in den Verdacht zu geraten, im Zweiten Weltkrieg gekämpft zu haben.
Marietta Andreae gehört zu den wenigen Zeitzeugen, die sehr gut über Lagerfeld und seine Ausflüge nach Bad Bramstedt informiert sind. Doch die langjährige Freundin und Mitarbeiterin des Modeschöpfers will darüber schweigen, bis ihr Buch im September erscheint. Die ehemalige PR-Direktorin des Modehauses Chanel für Deutschland und Österreich schreibt ihre Erlebnisse auf.
Dann werde sie auch über Lagerfelds Besuche in Bad Bramstedt berichten, sagt sie. Das Werk soll viele Anekdoten sowie Texte und Zeichnungen von Lagerfeld enthalten. Bei den vielen Reisen habe sie endlose Gespräche mit Lagerfeld geführt, sagt sie und fügt hinzu: „Mir liegt es sehr am Herzen, seine private Seite zu zeigen, die viele nicht kennen.“
Elfriede von Jouanne traf Lagerfeld in Hamburg
Eine weitere Freundin Lagerfelds aus alten Zeiten, Elfriede von Jouanne aus Hagen, geht davon aus, dass der sogenannte Modezar tatsächlich nur zweimal seine alte Heimat in Holstein besucht hat, ohne ihr zu begegnen. Beide trafen sich nur einmal wieder: 1989 in Hamburg am Rande einer Talkshow. Sie erklärt sein schwieriges Verhältnis zur Stadt nicht nur mit den Problemen in seiner Kindheit, sondern auch mit dem Abriss des Gutshauses. „Er war sehr schockiert“, erinnert sich Elfriede von Jouanne, die Lagerfeld seit der Kindheit kannte. Sie ist die Großnichte von Lagerfelds einstiger Kinderfrau Martha Bünz. Ab 1980 pflegten beide eine Brieffreundschaft.
Nachdem die Familie Lagerfeld Bad Bramstedt in den 50er-Jahren verlassen hatte, verkaufte sie das Gutshaus an die Stadt, die das Versprechen abgab, es an einen Ballettmeister für 60.000 DM zu verkaufen. Doch dazu kam es nicht, die Stadt ließ das Gebäude abreißen. „Deshalb hat Karl Lagerfeld sich noch mehr aus Bad Bramstedt zurückgezogen“, sagt Elfriede von Joanne.
Seine Briefe verwahrt Elfriede von Jouanne in einem Safe. In einem Interview sagte sie: „Es waren sehr liebevolle Briefe, die er stets mit ,meine liebe Frau Jouanne‘ anfing und mit ,Ihr Karl Lagerfeld‘ beendete. Alle Briefe waren auf weißem oder auch mal cremefarbenen Papier mit seinem Emblem geschrieben – selbstverständlich per Hand. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass dieser Mann die Zeit gefunden hat, mir zu schreiben. Er ist und bleibt eine Legende.“