Henstedt-Ulzburg. Nach Angriff in Henstedt-Ulzburg: Staatsanwaltschaft wirft Pick-up-Fahrer „bedingten Tötungsvorsatz“ vor.

Nach mehr als acht Monaten sind die Ermittlungen zu dem Angriff mit einem VW-Pick-up auf Gegendemonstranten nach einer AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Kiel klagt einen damals 19-Jährigen aus Föhrden-Barl wegen eines „hinreichenden Tatverdachts“ des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr an.

Angeklagtem droht eine mehrjährige Haftstrafe

Im Falle einer Verurteilung droht eine mehrjährige Haftstrafe. Bei dem Vorfall, der bundesweit Beachtung gefunden hatte, waren am 17. Oktober 2020 vier Personen aus der antifaschistischen Szene schwer verletzt worden. Der Fahrer selbst wird dem rechtsextremen Umfeld zugeordnet.

„Wir gehen davon aus, dass er bewusst und gewollt in die Gruppe gefahren ist. Die Frage ist: Was bringt einen jungen Mann dazu?“, sagt Oberstaatsanwalt Axel Bieler. Antworten darauf soll nun die zuständige Jugendkammer des Landgerichts Kiel finden – sofern die Anklageschrift zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wird. #

Zahlreiche Zeugen und ein Gutachten zum Hergang

Dem heute 20-Jährigen wird vorgeworfen, das tonnenschwere Fahrzeug auf einen Gehweg an der Beckersbergstraße gelenkt und dort „mit bedingtem Tötungsvorsatz vier Personen angefahren und verletzt zu haben“. In einer ersten Einschätzung hatte die Segeberger Polizei noch von einem Verkehrsunfall gesprochen und davon, dass Demonstranten der rechten und linken Szene aneinander geraten seien.

Doch im Zuge der Ermittlungen durch den Staatsschutz stellte sich der Sachverhalt offenkundig anders dar: „Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeschuldigte in der Absicht gehandelt hat, einen Unglücksfall herbeizuführen und dabei jedenfalls billigend in Kauf genommen hat, dass die von ihm angefahrenen Personen auch tödlich verletzt werden können“, heißt es in einer Mitteilung. Neben zahlreichen Zeugenaussagen gibt es auch ein Gutachten eines Unfallsachverständigen, auf das die Staatsanwaltschaft ihre Argumentation stützt.

Ermittlungen „kompliziert und aufwendig“

Alexander Hoffmann, Rechtsanwalt aus Kiel, vertritt einen der Geschädigten. „Ich empfinde die Anklage als Erfolg“, sagt er. „Wir werden beantragen, eine Nebenklage zuzulassen.“ Diese hatte er unter anderem auch im NSU-Prozess vertreten. „Als die Akte bei der Staatsanwaltschaft war, wurde erstmals eine rechtliche Bewertung vorgenommen. Es ist richtig, dass eine solche Tat als versuchter Tötungsdelikt angeklagt wird.“

Hoffmann kritisiert die Polizei für die aus seiner Sicht zu langsamen Ermittlungen. Er befürchtet, dass Beweismittel vernichtet worden seien. „Als die Telefone sichergestellt wurden, stellte sich heraus, dass viel gelöscht wurde.“

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft gibt es allerdings keine Hinweise, dass belastendes Material vernichtet worden sei. „Die Besonderheit ist die politisch aufgeheizte Lage. Wir müssen prüfen, ob Dinge instrumentalisiert werden sollen. Das macht die Ermittlungen kompliziert und aufwendig. Es war eine Vielzahl an Datenträgern auszuwerten“, so Axel Bieler. Eine Untersuchungshaft sei 2020 nicht beantragt worden, da weder Wiederholungs- noch Verdunklungs- oder Fluchtgefahr bestanden habe.

Ein Polizist gab vor Ort einen Warnschuss ab

Mit diesem VW Amarok wurden die Personen an der Beckersbergstraße angefahren.
Mit diesem VW Amarok wurden die Personen an der Beckersbergstraße angefahren. © Antifa Pinneberg | Antifa Pinneberg

Der Fahrer selbst hat sich bisher nicht geäußert. Über ihn ist wenig bekannt. Ein Internetblog listete allerdings Verbindungen in sozialen Medien zu Personen der rechtsradikalen, rassistisch geprägten Identitären Bewegung wie dem Rapper Chris Ares, aber auch eine später nicht mehr sichtbare Instagram-Freundschaft zum Kaltenkirchener AfD-Politiker Julian Flak auf. Nahe des Bürgerhauses hatten der 19-Jährige und seine Begleiter Aufkleber des rechtsextremen Vereins „Ein Prozent“ verteilt, zudem sollen sie Fotos gemacht haben. Daraufhin wurden sie von dem Gelände verwiesen und trafen auf Mitglieder der Antifa.

Kurz darauf rollte der Pick-up über den Gehweg. Anschließend gerieten beide Seiten aneinander, ein Polizist gab einen Warnschuss ab, begründete das mit „Aggressionsdelikten gegenüber Beteiligten und Beamten“. Auch diese Umstände dürften vor Gericht noch einmal thematisiert werden.

Die Gemeinde selbst kam nicht zur Ruhe. Am 18. Oktober, am Tag nach dem Vorfall, fand eine spontane Demonstration durch den Ort mit mehreren Hundert Teilnehmern statt. Wochenlang diskutierte die Politik darüber, ob es möglich sei, AfD-Veranstaltungen im dem Gebäude zu verhindern – letztlich wurde eine solche Entscheidung verworfen, da ansonsten auch die Lokalpolitik die Räumlichkeiten nicht mehr hätte nutzen können.

Bündnisse rufen zur Demo am 17. Juli in der Gemeinde auf

Vor zweieinhalb Wochen tagten die Rechtspopulisten daher ein weiteres Mal im Bürgerhaus, diesmal wählten sie einen Bundestagskandidaten – vor der Tür wurde erneut demonstriert. In diesem Frühjahr wurde zudem neben der Roten Flora im Hamburger Schanzenviertel ein großes Plakat befestigt. „Henstedt-Ulzburg war kein Unfall“, war die Botschaft. Der Prozess wäre also fraglos politisch brisant.

Das Henstedt-Ulzburger Bündnis für Demokratie und Vielfalt, ein Zusammenschluss vieler Menschen aus der Bevölkerung, wird am 17. Juli ab 14 Uhr vom Bahnhof Henstedt-Ulzburg zusammen mit den Bündnissen gegen Rechts aus Hamburg und dem Kreis Pinneberg, der Initiative „Segeberg bleibt bunt“ und dem Bündnis „Norderstedt ist weltoffen“ aus Solidarität mit den Betroffenen des Angriffs vom 17. Oktober 2020 durch die Gemeinde ziehen.

„Die Demo ist für 800 Personen angemeldet“, sagt Sprecherin Britta de Camp-Zang. Es sei wichtig, auf die Straße zu gehen und Druck zu machen. „Die Täter-Opfer-Umkehr ist durch die Anklage geradegerückt worden. Es zeigt den Betroffenen, dass sie ernst genommen werden.“