Norderstedt. Ehemalige und Aktive der Norderstedter Initiative für Fluglärmschutz (NIG) müssen erkennen, dass sie mit ihren Zielen gescheitert sind.

Ruhe über Norderstedts Dächern – ein äußerst seltener Zustand. Corona hat vor allem den Garstedtern die Lärmpause geschenkt. Durch die Pandemie kam der Flugbetrieb fast zum Erliegen. Doch jetzt fährt der Flughafen Hamburg die Zahl der Starts und Landungen wieder hoch. „Es ist schwer zu sagen, wann wir den üblichen Lärmpegel wieder ertragen müssen. Aber leider wohl schneller, als man denkt“, sagt Hans-Joachim Hartmann, Vorsitzender der Norderstedter Interessengemeinschaft für Fluglärmschutz (NIG).

Die Initiative feiert in diesem Jahr ihren 40. Geburtstag – doch in den vergangenen Jahren ist es leise geworden um die Männer und Frauen, die früher zu den lautesten Kämpfern gegen den Lärm aus der Luft gehörten.

Und der war in pandemiefreien Zeiten massiv: Über Norderstedt, Quickborn und Hasloh starten und landen 43 Prozent der Flugzeuge, 67.246 waren es im Jahr 2019, dem letzten aussagekräftigen, bevor Corona die Passagierzahlen 2020 um 74 Prozent gegenüber 2019 drückte. Vor allem, wenn es in die Luft geht, ist die Norderstedter Bahn die bevorzugte Piste. Knapp sechs von zehn Maschinen hoben über Norderstedt ab, 46.066 Starts verzeichnet die Flughafen-Statistik für 2019.

Alle Versuche, die Umlandbewohner zu Lasten der Hamburger vom Fluglärm zu entlasten und ihn gerechter zu verteilen, sind bisher gescheitert. Was also bleibt nach 40 Jahren Einsatz für mehr Ruhe nördlich der Metropole?

Immerhin: Flieger starten und landen nicht rund um die Uhr

„Wir haben gemeinsam mit anderen Interessengemeinschaften wie der früheren IG Flugschneise Nord“ aus Quickborn verhindert, dass der Flughafen rund um die Uhr betrieben werden kann und erreicht, dass der Fluglärm nicht in Vergessenheit gerät“, sagt NIG-Chef Hartmann. Ohne das Engagement der organisierten Fluglärmgegner würden möglicherweise noch mehr Maschinen über Norderstedt hinweg starten und landen.

Und einen weiteren Erfolg können die NIG und die zahlreichen weiteren Initiativen verbuchen: Die Zahl der Nachtflüge ist gesunken. 678 Maschinen starteten und landeten im Jahr 2019, dem letzten regulären Flughafenjahr vor Corona, zwischen 23 und 24 Uhr, 496 oder 42 Prozent weniger als noch 2018. Dieser Teilerfolg reicht den Fluglärmgegnern allerdings nicht. Sie fordern: Ab 22 Uhr muss Ruhe herrschen. Wird der Schlaf gestört, ist das besonders sensibel für die Gesundheit.

Norderstedts Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder hält dieses Ziel allerdings für unrealistisch. Roeder, seit Herbst 2019 Vorsitzende der Fluglärmschutzkommission, setzt sich vor allem dafür ein, dass die Verspätungsregeln eingehalten werden, der Hamburger Flughafen also nach 23 Uhr nicht mehr angeflogen wird. „Böse Zungen behaupten, dass die OB eher den Flughafen unterstützt als die eigenen Bürger. So bezeichnete sie das Anliegen der Petition, die ab 22 Uhr Nachtruhe erwirken wollte, als ,utopisch’“, sagt Hartmann von der NIG. Der BUND hatte 2017 fast 12.700 Unterschriften für ein konsequentes Nachflugverbot gesammelt, doch die Aktion verpuffte. Hartmann hält die Zusammenarbeit zwischen der NIG und der Verwaltungschefin für „verbesserungswürdig“. Treffen kämen immer nur auf Initiative der NIG zustande. Aus der Fluglärmschutzkommission höre man auch nichts darüber, dass sie sich verstärkt für Norderstedt einsetzt.

Deutlichere Wort fand das NIG-Urgestein im Kampf gegen den Fluglärm, Uwe Kühl: „Sie haben unverständlicherweise die Wirtschaftlichkeit des Hamburger Flughafens vor das dringende Ruhebedürfnis und die Gesundheit ihrer Bürger gestellt. Und Sie haben sich dagegen ausgesprochen, dass die nächtlichen Flüge um 22 Uhr statt wie bisher um 23 Uhr enden“, schrieb der Norderstedter 2019 in einem offenen Brief an Roeder. Nun hat Kühl, Mitbegründer der NIG, resigniert das Handtuch geschmissen und sich aus der Allianz für Fluglärmschutz verabschiedet. „Meine Herz- und Bluthochdruckprobleme, die schreckliche vegetative Dysbalance und mein Tinnitus sind Folge von jahrzehntelangen Dauerbeschallungsorgien von 6 bis 24 Uhr, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Diverse medizinische Studien haben belegt, dass Fluglärm krank macht.“

Kühl hält die Arbeitsgruppe für eine „politische Alibiveranstaltung“. Sie solle den Eindruck erwecken, dass sich die Situation verbessern werde. Doch schon ein Kernsatz aus dem Jahresbericht 2020 der Allianz mache deutlich, dass das nichts als Illusion sei: „Bei allseits unverrückbaren Positionen ist keine Konsensbildung möglich.“

Ähnlich skeptisch beurteilt Hans Schwarz die Lage: „Mit schönen Worten allein wird sich nichts ändern“, sagt der 86 Jahre alte Pionier des Norderstedter Fluglärmschutzes und langjähriger Sprecher der NIG. Er erinnert an die 1960er-Jahre, als er mit dem Versprechen von Hamburg nach Garstedt gelockt worden sei, dass ein Ersatzflughafen in Kaltenkirchen gebaut werde. 1962 beschlossen Hamburg und Kiel das Gemeinschaftsprojekt Kaltenkirchen. 1965 erhielt die Flughafen Hamburg GmbH die Baugenehmigung. 1969 waren die Entwürfe fertig. 13 Flughafenexperten aus aller Welt beugten sich über die Pläne, nur: Wirklichkeit wurden sie nie.

Schallschutz sei „akustische Käfighaltung“, sagt ein Gericht

Realität aber ist der Fluglärm. Und die NIG lebt noch, weniger als Einzelkämpferin, vielmehr als Teil eines Netzes. Die Norderstedter arbeiten eng mit Gleichgesinnten in Initiativen wie dem Arbeitskreis Klima-und Luftverkehr, der Initiative gegen Fluglärm im Hamburger Westen (IFL), dem Verein Fluglärmschutz Hamburg (FSH), dem Dachverband der Hamburger Bürgerinitiativen für Fluglärmschutz (BIG), der Wählergemeinschaft Wir in Norderstedt (WiN) und dem Arbeitskreis Luftverkehr im BUND HH zusammen.

Der Flughafen soll „stadtverträglicher“ werden. Dabei will dieser seine Kapazitäten bis auf 200.000 Starts und Landungen pro Jahr ausbauen, rund 40.000 mehr als jetzt. „Das bedeutet Lärm ohne Unterbrechung“, urteilt die NIG. Mehr als 100 Tonnen Fein- und Ultrafeinstaub würden in wenigen Jahren über Norderstedt und dem Umland „abregnen“ – derzeit seien es 60 Tonnen.

Ein paar schallreduzierende Fenster und Lüfter für die Schlafzimmer würden da nicht weiterhelfen. Ein Münchner Gericht habe die Schallschutzprogramme des Flughafens treffend als „akustische Käfighaltung“ bezeichnet. Flüge von 20 Uhr bis 24 Uhr sowie von 6 bis 8 Uhr vermeiden oder drastisch reduzieren, fordert die NIG. Lärm in diesen sensiblen Zeiten „macht krank und ist für Kinder besonders belastend“.

Ein Verbot von Kurzstreckenflügen sei überfällig. „Immer schneller, immer höher und immer weiter ist wohl hoffentlich vorbei. Es ist eine Minute vor zwölf“, sagt Hartmann. Er sorgt sich um die Zukunft der NIG, deren Mitgliederzahl sich noch im hohen zweistelligem Bereich bewege. „Die Altersstruktur ist hoch, und junge Menschen sind schwer zu gewinnen. Wir suchen händeringend junge Leute, die uns tatkräftig bei unserem Kampf um weniger Flugbelastungen über Norderstedt unterstützen.“

www.nig-fluglaermschutz.de.