Bad Segeberg.
Stolperstein-Künstler Gunter Demnig war diesmal nicht dabei. Dafür setzten rund 20 Schülerinnen und Schüler der Segeberger Dahlmannschule 13 Stolpersteine für jüdische Segeberger. Sie waren von den NS-Machthabern verfolgt, vertrieben und ermordet worden. Auch die tragischen Schicksale hinter den Namen der Segeberger Jüdinnen und Juden erforschten die 15 Jahre alten Schülerinnen gemeinsam mit ihrer Lehrerin Susanne Diederichsen. Organisator der Stolperstein-Verlegung quer durch die Innenstadt war Axel Winkler. Der Geschichtslehrer widmet sich seit Jahren der braunen Vergangenheit der Kur- und Kreisstadt und hat Bücher wie „Das Mädchen im Koffer – Leben und Leiden Segeberger Juden“ geschrieben.
Die Stolperstein-Verlegung ist auch der Auftakt zu Segebergs Beitrag zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Als weiteres Projekt zum Festjahr wird das Mahnmal am Standort der ehemaligen Synagoge an der Lübecker Straße neu gestaltet, initiiert von Segebergs Liberaler Jüdischen Gemeinde. Die Fassade der Synagoge wird als Stahl-Installation nachgebaut und vor der Ruine aufgestellt. „Das ist dringend notwendig, um an das Leben und Leiden der Segeberger Juden im Holocaust zu erinnern“, sagte Axel Winkler vor gut 60 Teilnehmenden an der Gedenkstunde. Ohnehin sei er immer wieder „erstaunt“ darüber, wie lange sich die Stadt Zeit mit der Erforschung des einstigen jüdischen Lebens bis zur Schoa gelassen habe. Die Stolpersteine und die Installation seien gleichzeitig ein Signal gegen den wieder rasant erstarkenden Antisemitismus in der Stadt.
„Die Stolpersteine sind ein leuchtendes Zeichen dafür, dass wir heute für immer an die Opfer von zügellosen Nazi-Verbrechen erinnern und sie durch Nennung ihrer Namen, Lebens- und Todesdaten wieder zurück in ihre Stadt Bad Segeberg holen“, sagte Winkler.
Bisher gab es zehn Stolpersteine, deren Verlegung der Wahlstedter Geschichtsforscher Heino Ullrich initiierte. Einer davon wurde für Leopold Bornstein vor der Synagogen-Ruine gelegt. Jetzt setzten Emma Sanne, Emilia Friesel, Bennett Harms, Kari Fromm, Milena Kanava und Anna Lena Stahl von der Dahlmannschule weitere fünf Stolpersteine für Ernst, Anna, Gitella, Samuel und Lea Beer dazu. Sie wohnten von 1908 bis 1922 an der Lübecker Straße. Außer Samuel Beer, dem 1938 die Flucht in die USA gelang, wurden Ernst, Anna und Gitella Beer alle am 8. September 1942 im Todeslager Chelmo ermordet. Lea Beer wurde im Mai 1945 aus dem KZ Bergen-Belsen befreit und emigrierte in die USA. Sie wohnten einst als glückliche Familie an der Lübecker Straße 2, gleich neben der Synagoge.
Für Mutter Emma und Tochter Elsa Baruch setzten Hannah Haisch und Romea Döring Stolpersteine an der Kirchstraße 1 neben der Lübecker Straße, die in der NS-Zeit Horst-Wessel-Straße hieß. „Wir haben durch unser Stolperstein-Projekt erfahren, wie wichtig es ist, an die Segeberger Jüdinnen und Juden zu erinnern“, sagt Romea Döring. „Wir wollen auch andere darauf aufmerksam machen, wie tragisch die Einzelschicksale sind“, sagte Hannah Haisch.
An der Kirchstraße, ebenfalls gleich neben der alten Synagoge, führte Emma Baruch mit ihrem Ehemann Leo ein Manufakturwaren-Geschäft. Sie waren gut angesehen in der Stadt. 1902 wurde als erste Tochter Elsa Baruch geboren, 1904 folgte Alice, 1908 Gerda. Währenddessen machte Leo Baruch sein Warenhaus zum Anziehungspunkt der ganzen Region. Elsa Baruch besuchte als einziges Mädchen die Höhere Knabenschule, alle Töchter erhielten eine gute Schulbildung und lernten den Beruf der Kauffrau.
Doch 1930 starb Leo Baruch plötzlich, Ehefrau Emma führte das Geschäft weiter – und musste in dunkle Zeiten steuern. Schon bei der Beerdigung bewarfen Segeberger Jung-Nazis die Trauergäste mit Steinen. In der Reichs-Pogromnacht plünderte der Nazi-Mob auch das Warenhaus der Baruchs und überfiel die Synagoge.
Emma Baruch floh mit ihren Töchtern Alice und Gerda nach Hamburg. Elsa hatte inzwischen geheiratet und lebte in Beverungen. Gerda konnte nach Schottland fliehen. Alice starb 1942 im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg an einer Bauchfellentzündung, Emma deportierten die Nazis 1942 ins KZ Theresienstadt und ermordeten sie dort am 1. Juni 1943. Ihre Tochter Elsa deportierten sie 1942 ins Warschauer Ghetto, wo sich ihre Spur verliert. Weitere Stolpersteine wurden für Friedericke Levin, Mathilde Meier, Emil Selig, Selly und Siegfried Baruch und Paula Levy verlegt.
Während die 20 Schülerinnen und Schüler der Dahlmannschule die Stolpersteine feierlich ins Pflaster setzten, sorgte Magnus Grell von der Firma Spechtbau für ihren festen Halt. Spechtbau stellte die Arbeitskraft ihres Maurers für die gesamte Aktion als Spende zur Verfügung.
„Ein Stein wird Zeuge von Untaten an zu Tode gefolterten Menschen und übernimmt die Aufgabe des Anklägers“, sagte Ljudmila Budnikov vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde. Die Aufgabe eines Stolpersteines sei es, die Menschen, die ihm begegnen, zum Denken anzuregen. Budnikov dankte vor allem den Jugendlichen, dass sie die Augen vor der Nazi-Vergangenheit ihrer Stadt nicht verschließen, sondern der Opfer aktiv gedenken würden. „Diese Stolpersteine erzählen Schicksale, damit sind die Menschen wieder mitten unter uns, und wenn wir ihre Namen lesen, verbeugen wir uns vor ihnen“, sagte Segebergs Bürgervorsteherin Monika Saggau.
Im Herbst plant Axel Winkler das Verlegen von elf Stolpersteinen für Adolf Levy, seine Ehefrau und zehn Kinder an der Kurhausstraße. Einige von ihnen konnten fliehen, die meisten der Familie wurden von den Nazis ermordet. Dann soll Stolperstein-Künstler Gunter Demnig die Steine wieder verlegen.