Wahlstedt. Wahlstedter Sammlerin findet in inem alten Gesangbuch einen Zettel aus dem Bombenhagel Palmarum 1942.

Es sei bestimmt schon seit 20 Jahren in ihrem Besitz, sagt Gesangbuchsammlerin Sigrid Baier und blättert die feinen, dicht bedruckten Seiten mit dem Goldschnitt im Schnelldurchlauf, wie ein Daumenkino. 120 Jahre alt ist das fein gearbeitete mecklenburgische Kirchengesangbuch mit dem in Vergoldung eingeprägten Namen „Frieda Buller“ unter den Worten „Behüt Dich Gott auf deinen Weg“. 1901 gedruckt in Schwerin beim Verlag Sandmeyerschen Hofbuchdruckerei, „mit allerhöchster Genehmigung“, wie innen zu lesen ist. Der damalige Preis: Eine Mark und 25 Pfennige.

Dieser Zettel wurde in der Bombennacht 28./29. März 1942 geschrieben.
Dieser Zettel wurde in der Bombennacht 28./29. März 1942 geschrieben. © Hiltrop | Heike Hiltrop

„Irgendwann habe ich es mal in die Hand genommen und finde diesen Zettel, der mich sehr erschüttert hat“, erinnert sich die 76-jährige Wahlstedterin und schlägt Seite 304 auf. Eine Seite mit Liedtexten „in gemeiner Not“, also solche, die in Verzweiflung Kraft geben sollen. „Ein feste Burg ist unser Gott“, Text: Martin Luther, ist hier unter anderem abgedruckt. „Bombenangriff, Lübeck und 28./29. März 1942 März“, ist auf dem eingelegten, leicht vergilbten Blatt Papier noch lesbar. Der Rest verschwimmt in der verwischten Bleistiftschrift. „Das müsste sich vielleicht mal jemand ansehen, der sich auskennt. Vielleicht lässt sich noch mehr entziffern“, sagt Sigrid Baier und legt das Papier vorsichtig auf den Tisch.

Das Datum gehört zur Nacht auf Palmsonntag, kirchlich Palmarum, vor 79 Jahren – die Nacht im Zweiten Weltkrieg, in der die Royal Air Force bei einem Luftangriff auf Lübeck große Teile der Altstadt zerstörte. Ein Feuersturm brach los. Mehr als 300 Lübecker starben, Tausende wurden obdachlos.

Die Wahlstedterin sucht nun Nachfahren von Frieda Buller

Sigrid Baier schaut auf den Zettel, von dem sie sicher ist, dass Frieda Buller selbst ihn geschrieben hat: „Wie groß muss die Angst dieser Frau gewesen sein, die vielleicht nach Lübeck geheiratet hat oder bei Verwandten dort war.“ Darum habe sie überlegt, ob es wohl Nachkommen gibt. „Jemanden, dem der Name etwas sagt und dem das alte Gesangbuch etwas bedeuten könnte.“

Die Familie Buller, die heute in Lübeck lebt, hat mit Frieda nichts zu tun, wie sich schnell herausstellte. Der gleiche Name: Zufall.

Das Gesangbuch wurde im Jahr 1901 in Schwerin gedruckt.
Das Gesangbuch wurde im Jahr 1901 in Schwerin gedruckt. © Hiltrop | Heike Hiltrop

Aufgeben will Sigrid Baier nicht und erinnert sich an ihre eigene Familiengeschichte: „Meine Großeltern sind vor meiner Geburt gestorben, da gibt es nichts. Meine Mutter und ich sind am 24. März 1945 aus Pommern in Boostedt angekommen. Ich bin unterwegs geboren.“ Wochenlang sei unklar gewesen, ob – und wenn ja – wo ihr damals dreijähriger Bruder, die Schwestern der Mutter und andere enge Verwandte überlebt hatten. „Meine Mutter hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als es klopfte und Tante Trudchen vor der Tür stand. Auch mein Bruder Ulrich hat überlebt. Am Ende waren wir neun Leute, die nach Schleswig-Holstein gekommen sind.“

Mit diesem Blick auf ihre Vergangenheit hätte sie sich gefreut, wenn sie etwas in Händen halten könnte, das von ihren Großeltern stammt. „Das ist bei Frieda Bullers Nachfahren vielleicht auch so“, sagt Sigrid Baier und klappt das alte Gesangbuch vorsichtig wieder zusammen: „Ich würde mich so freuen, wenn sich jemand fände, der mit ihr verwandt ist. Sie muss etwa 1884 geboren worden sein. Ich hüte es so lange.“