Kayhude. Ein Kayhuder Start-up und eine Bäckerei gehen neue Wege, um Lebensmittelverschwendung zu verhindern

Wenn die Kunden von morgen noch schlafen, wird in der Landbäckerei Matthiessen in Kayhude schon gearbeitet: Schon vor Mitternacht wird begonnen, 120 verschiedene Sorten Brot, Brötchen und Kuchen zu backen. Für Tino Matthiessen (47), der die 1895 gegründete Bäckerei seit 2007 in der fünften Generation führt, ist es nicht leicht, die Kundenwünsche möglichst optimal vorherzusagen. Was wird in den sechs Filialen der Bäckerei am nächsten Tag verlangt? Umfangreiche Statistiken und ein gut ausgeklügeltes IT-System haben es ihm bisher ermöglicht, ungefähre Voraussagen zu treffen. Trotzdem: Viele Backwaren landen in der Biogasanlage, weil sie nicht verkauft werden – pro Monat etwa 100 Mülltonnen Lebensmittelabfall. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern auch kostenintensiv.

Big Data und frische Brötchen passen gut zusammen

Aber jetzt kommt ein Unternehmer ins Spiel, der seinen Sitz ebenfalls in Kayhude an der B 432 hat: Nils Offer, Geschäftsführer und Mitgründer von netsolutions, einem Marktführer im Bereich digitaler Geschäftsprozesse, hat zusammen mit seinen Geschäftspartnern Jan Pimanow und Friedrich Graf zu Rantzau das Start-up food21 gegründet, um die Verschwendung von Lebensmitteln zu mindern.

Die Landbäckerei Matthiessen ist einer der ersten Pilotkunden des Start-ups, das im vergangenen Jahr mit einem schleswig-holsteinischen Innovationspreis ausgezeichnet wurde. Dieses Beispiel erzählt Tino Matthiessen gerne: In China werden Kürbiskerne geerntet, mit dem Schiff um die halbe Welt transportiert, vom Hamburger Hafen per Lastwagen in seine Bäckerei gefahren – und in Kayhude schließlich als überschüssige Ware weggeworfen. „Das macht überhaupt keinen Sinn“, folgert der Bäcker.

Genauso sieht es auch Nils Offer, der seit 40 Jahren mit Tino Matthiessen befreundet ist. Er und seine Kollegen lassen sich jetzt jeden Tag online die Betriebszahlen der sechs Bäckerei-Filialen schicken. Die food-21-Software lernt die Bäckerei und das Verhalten der Kunden immer besser kennen.

Wetter, Ferien, Baustellen – alle Daten spielen eine Rolle

Berücksichtigt werden nicht nur Verkaufszahlen, sondern auch Faktoren, an die der normale Käufer nicht im Traum denkt: Wetterdaten, Ferienzeiten, Baustellen auf der Straße, lokale und überregionale Veranstaltungen. Die Software wertet das aus und errechnet, was am nächsten Tag oder in der nächsten Woche verlangt und verkauft wird. Tino Matthiessen kann das zwar auch, so ungefähr jedenfalls. Aber für seine Berechnungen braucht er viele Wochenstunden an Zeit. Das Programm reagiert blitzschnell und zeigt viel genauer auf, wann wie viel Mohn- oder Kürbiskernbrötchen verkauft werden und welcher Kuchen wahrscheinlich am beliebtesten ist.

Nils Offer von der Firma netsolutions in Kayhude ist zusammen mit Jan Pimanow Gründer von food21.
Nils Offer von der Firma netsolutions in Kayhude ist zusammen mit Jan Pimanow Gründer von food21. © Unbekannt | Fotowerker-Ganzer&Berg GbR

Das Ergebnis war für den Bäckermeister verblüffend: „Wir werfen etwa 40 Prozent weniger Lebensmittel weg.“ Jetzt will Tino Matthiessen Nischenprodukte ausfindig machen, die von Kundinnen und Kunden nur ersatzweise gekauft werden, weil die sonst bevorzuge Ware ausverkauft ist. Ziel ist es, etwa 30 Produkte weniger anzubieten und so 20 bis 25 Tonnen Mehl pro Jahr einzusparen. Wirtschaftlich produzieren und weniger wegwerfen dank moderner Technologie, das ist das Ziel von Tino Matthiessen und den Machern von food21.

Weil das Thema Lebensmittelverschwendung längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, haben Nils Offer und seine beiden Kollegen mit ihrem Start-up auch bereits für einige Aufmerksamkeit gesorgt. Die Kayhuder Landbäckerei war ein Anfang, inzwischen sind zahlreiche weitere Kunden, darunter auch Handelsketten und Konzerne mit Milliardenumsatz dazugekommen, die zum Teil global tätig sind.

Das Einsparpotenziel ist riesig – wenn die Verbraucher helfen

Ein Müsli-Hersteller liefert weltweit in 89 Länder. Das ist eine Herausforderung, weil viele Daten erfasst werden müssen. Auch globale Großveranstaltungen spielen eine Rolle: Wie wirken sich eine Fußball-WM oder die Olympischen Spiele auf das Kaufverhalten aus? An Antworten wird gearbeitet.

„Die Halbierung der Lebensmittelverluste ist ein Ziel der Vereinten Nationen“, sagt Jan Pimanow. „Wir helfen dabei, diesen gesellschaftlichen Auftrag umzusetzen.“ Er spricht von „gigantischen Einsparpotenzialen“, wenn Verbrauchsprognosen erstellt werden, die sich am Kaufverhalten der Endkunden orientieren.

Handel, Konsumenten und Produzenten werden zusammengeführt, um eine Transparenz zu schaffen, die es bisher noch nirgends gibt. Jan Pimanow formuliert es so: „Wir orchestrieren und führen Handel, Verbraucher und Produzenten zum gemeinsamen Handeln zusammen.“

Um alle relevanten Daten zusammenzutragen und auszuwerten, braucht ein Unternehmen selbst viel Personal und viel Zeit. food21 löst es mit insgesamt fünf Personen in relativ kurzer Zeit. In einem weiteren, noch nicht realisierten Schritt sollen auch die Verbraucher eingebunden werden. Zum Beispiel per App, mit deren Hilfe die Einkäufe geplant werden können.

„Das Interesse bei den Produzenten ist jetzt noch höher als im Handel“, sagt Nils Offer, der aber auch realistisch sieht, dass die Einsparmöglichkeiten nicht auf die Spitze getrieben werden können, weil auch die Kunden Erwartungen haben. „Leere Regale will der Kunde eher nicht sehen.“

Hundertprozentige Einsparung wird es also nicht geben, als möglich wird von den food21-Machern aber eine Halbierung der Verlustquote angesehen. 30 bis 50 Prozent Einsparung an Rohstoffen bedeuten nach den Worten von Nils Offer „ein riesiges“ Einsparpotenzial, insbesondere in der Vorhaltung und Planung.

Bäcker Tino Matthiessen ist überzeugt, dass food21 einen richtigen Weg eingeschlagen hat. Er wartet jetzt mit Spannung auf das Ende der Corona-Zeit, wenn die sechs Cafés der Bäckerei wieder öffnen dürfen. „Dann gibt es ganz viele neue Faktoren, die eine Rolle spielen und in das Programm eingepflegt werden müssen.“ Die Gründer von food21, Nils Offer, Jan Pimanow und Friedrich Graf zu Rantzau, sind sich sicher, dass sie auch diese Herausforderung lösen werden.