Borstel. Das “originale“ Coronavirus, das die Pandemie auslöste, ist verdrängt worden – Mutationen haben seinen Platz eingenommen.

Die kleinen Bösewichte, die die Menschheit in eine Pandemie gestürzt haben, stecken gut verschlossen in kleinen Plastikröhrchen. Sicher verpackt ist die Ladung mit den Proben im Forschungszentrum Borstel angekommen.

Theoretisch geht von ihnen keine Gefahr mehr aus, weil diese Coronaviren vor dem Versand abgetötet wurden, doch in Borstel gehen die Wissenschaftler auf Nummer Sicher: Bevor sie dem Erreger ins Innerste blicken, stellen sie mit einem Schuss Ethanol sicher, dass er endgültig nicht mehr aktiv ist. Erst dann schauen die Fachleute in seine Gene.

Das "originale" Coronavirus existiert nicht mehr

Als nationales Referenzzentrum für Tuberkulose sind die Spezialisten eigentlich für den Kampf gegen diese Krankheit zuständig, doch seit einem Jahr setzen sie ihr Wissen und ihre technische Ausstattung auch gegen das Coronavirus ein, das seit Anfang des Jahres regelmäßig in den kleinen Röhrchen bei ihnen angeliefert wird. Die Proben stammen aus der Teststation vor der eigenen Klinik sowie aus den Uni-Kliniken in Kiel und Lübeck, genauer gesagt: aus der Nasenschleimhaut der Menschen, die sich dort testen ließen.

Christian Utpatel gehört zu den Forschern, die herausfinden können, welche Mutationen des gefürchteten Virus in der Region aktiv sind. Wer immer noch denkt, dass „das“ Virus kursiert und dann noch die besonders ansteckenden Varianten aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien, der irrt. „Das“ Virus aus der chinesischen Großstadt Wuhan ist schon lange tot. Die erste Virusvariante existiert nicht mehr. Diverse Mutationen haben weltweit das Original abgelöst. Derzeit dominiert in Europa mit Ausnahme Großbritanniens ein Typ das Ausbruchsgeschehen, das sich in Spanien entwickelt hat.

24 unterschiedliche Varianten kursieren akut – besonders B.1.1.7

Allein im Kreis Segeberg und in einigen Nachbarregionen haben Utpatel und seine Kollegen seit Ausbruch der Seuche 24 unterschiedliche Corona-Varianten identifizieren können. Die Unterschiede sind in den Geninformationen erkennbar. Die gute Nachricht: Die Viren der südafrikanischen und brasilianischen Variante wurden bislang nicht entdeckt.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Die schlechte Nachricht: Die britische Variante mit dem Kürzel B 1.1.7 breitet sich weiter aus. Innerhalb weniger Wochen hat dieses Virus einen Anteil zwischen 15 und 20 Prozent bei den Testungen erreicht. „Das beobachten wir weiter sehr genau“, sagt der promovierte Biologe Utpatel, der im Hauptfach Mikrobiologie studiert hat. „Die Frage ist, ob das der dominante Erregertyp wird und wie er sich weiterentwickelt.“

Wie die Sequenzierung von Corona-Proben funktioniert

Wer wissen will, ob gerade diese besonders ansteckenden Viren in der Region die Menschen heimsuchen, muss die Gene kennen und in die winzigen Erbinformationen hineinblicken. Wie geht das? Sequenzierung heißt die Methode, mit der es gelingt, die Erbinformationen des Erregers zu entschlüsseln. Dafür muss die in den Röhrchen angelieferte Probe zunächst einmal gereinigt werden, bis nur noch die genetischen Bausteine RNA übrigbleiben.

Das Problem: In den Abstrichen tummelt sich nicht nur die RNA des Corona-Virus, sondern es gibt dort auch jede Menge anderer Erbgutinformationen. Das können zum Beispiel genetische Spuren des menschlichen Körpers oder auch eines anderen Virus sein, der sich in der Testperson breitmachen will. „Irgendwo in dieser Suppe müssen wir das Haar finden“, sagt Utpatel.

Eine Sequenzierung dauert im Schnitt eine Woche

Im nächsten Schritt reichert das Borsteler Team mit chemischen Prozessen die Genome an, nach denen sie suchen. Sie werden immer wieder aufs Neue vervielfältigt. „Erst dann haben wir eine Probe, mit der wir arbeiten und sie analysieren können“, sagt der Biologe, der sich die gesamten Geninformationen des Erregers ansieht.

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Dabei hilft ihm ein Gerät, das auf den ersten Blick einem Designer-Kopierer ähnelt. Dieser Sequenzer liefert exakte Informationen, wie sich das komplette Genom zusammensetzt. „Erst dann wissen wir, mit welcher Virusvariante wir es zu tun haben“, sagt Utpatel. Von der Anlieferung der Probe bis zu diesem Schritt sind sieben Tage vergangen.

Großbritannien war im Januar schon viel weiter

Welche Varianten unterwegs sind, untersuchen deutsche Forscher in großem Umfang erst seit Beginn des Jahres, als die Bundesregierung per Verordnung die Analysen startete. Die Briten waren damals schon viel weiter, sagt Utpatel. Dort sei schon vorher konsequent sequenziert worden, so dass nicht nur schnell bekannt war, dass die britische Variante die spanische abgelöst hatte, sondern dass die Regierung auch schnell reagieren konnte – mit einem harten Lockdown in weiten Teilen des Landes.

„Es ist wichtig zu wissen, mit welchen Varianten wir es tun haben“, sagt Utpatel. Mit den Informationen kann er auch neue, bislang unbekannte Mutationen ausfindig machen und die Erreger bei lokalen Ausbrüchen identifizieren. 40 bis 50 Proben analysiert das Borsteler Team pro Woche, bald sollen es 100 sein.

Forschungszentrum Borstel liefert Lagebild ans das RKI

Einen kompletten Überblick über Schleswig-Holstein kann es nicht liefern, aber ein gutes Lagebild für den weiteren Umkreis des Forschungszentrums, das seine Daten regelmäßig an das Robert-Koch-Institut sendet.

Utpatel wagt keine Prognose, wie sich die Erreger künftig entwickeln werden. „Wir sind keine Spezialisten für Virusepidemiologie“, sagt er. Eine Eigenschaft, die Kollegen von Utpatel bei dem Virus entdeckt haben, weckt jedoch Hoffnungen: Das Coronavirus mutiert langsamer als viele andere Krankheitserreger. Auch Grippe-Viren verändern sich deutlich schneller.