Norderstedt. Probleme haben stark zugenommen, seitdem die Tagesaufenthaltsstätte hinter dem Herold-Center geschlossen wurde.

Ein eisiger Wind pfeift am Montag durch Norderstedts Straßen. Minus zwei Grad zeigt das Thermometer an – gefühlt ist es deutlich kälter. Selbst in dicker Winterkleidung hält man es draußen nicht lange aus. Den Weg zur Tagesaufenthaltsstätte (TAS) am Lütjenmoor hinter dem Herold-Center haben an diesem Tag nur wenige Obdachlose auf sich genommen. Sie sind lieber im Winternotprogramm geblieben, bei diesen Temperaturen hat die Unterkunft auch tagsüber geöffnet. Andere obdach- und wohnungslose Menschen kommen schon lange nicht mehr zur TAS.

Sie irren einsam durch die Straßen, wissen nicht wohin. Seit dem zweiten Lockdown im November dürfen sie die Einrichtung nicht betreten. Der für sie so wichtige soziale Treffpunkt ist einfach weggebrochen. Und ihr Leben noch härter geworden als ohnehin schon.

Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, umklammert mit ihren Händen einen Kaffeebecher. Sie steht vor dem geöffneten Fenster der TAS. Ein Zelt schützt die Wartenden vor dem eisigen Wind. Unter der Woche können sich Bedürftige zwischen 12 und 14 Uhr ein warmes Mittagessen abholen. Diesmal gibt es Putenrahmgeschnetzeltes mit Spätzle. „Ich bin sehr verunsichert“, erzählt die 70-Jährige und nippt am heißen Kaffee. Das „Theater“ um den Impfstoff verstehe sie nicht.

Das familiäre Miteinander fehlt

„Und“, sagt sie, „ich habe keine Lust mehr, diese Masken zu tragen. Meine Brille beschlägt andauernd.“ Die Rentnerin hat nicht viel Geld, lebt aber in einer Wohnung. Vor Corona ist sie jeden Tag zur TAS gekommen, um sich mit fünf anderen Frauen zu treffen und auszutauschen. „Jetzt bin ich alleine. Das ist nicht witzig.“

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Zu normalen Zeiten haben sich täglich rund 30 bis 40 Menschen in der TAS aufgehalten. „Jetzt kommen durchschnittlich nur noch 15 Leute zu uns“, berichtet Tabea Müller, Leiterin der Wohnungslosenhilfe in Norderstedt. Obdachlose können weiterhin ihre Wäsche abgeben, sich beraten lassen, ihre Post abholen. Doch das, was ihnen wirklich Halt im Alltag gegeben hat, ist nicht mehr erlaubt. Sie dürfen nicht mehr gemeinsam in der Einrichtung spielen, Filme schauen, sich ausruhen, sich austauschen. „Das familiäre Miteinander hat viele am Leben gehalten“, sagt Tabea Müller. „Nun fehlt ihnen der Lebensmut und die Ablenkung.“ Und das hat fatale Auswirkungen.

Die Polizei musste bereits mehrmals ausrücken

In der Unterkunft, die die Stadt für das Winternotprogramm zur Verfügung gestellt hat, herrscht unter den Obdachlosen extreme Gewalt. „So eine Brutalität habe ich noch nie beobachtet“, sagt Müller. Es gab bereits mehrere Ausschreitungen, zu denen die Polizei anrücken musste. „Die Menschen haben nichts zu verlieren. Vielen ist es egal, wenn ihnen mit der Polizei gedroht wird. Sie kennen den Knast in- und auswendig.“

In einem größeren Saal schlafen acht Menschen zusammen. Trennwände sollen sie voneinander separieren. Dies ist allerdings kaum möglich. Mit lauter Musik oder nächtlichen Schnarchkonzerten treiben sie sich gegenseitig zur Weißglut. Die Obdachlosen konsumieren Alkohol, verlieren schnell die Geduld. Zudem sind sie extrem unterschiedlich. „Das ist eine sehr heterogene Gruppe. Auch wenn man meinen könnte, sie seien Leidensgenossen, kämpft häufig jeder für sich allein“, erklärt Tabea Müller.

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Verantwortlich für die Gewalt und Aggressionen macht sie die fehlende Ablenkung durch die TAS. „Wir konnten viele Probleme abfedern und Konflikte schlichten. Wegen Corona ist das nicht mehr möglich“, sagt die TAS-Leiterin. Die Menschen sind noch isolierter. Ihre Einsamkeit immer unerträglicher. Die öffentliche Infrastruktur ist ihnen weggebrochen. Anlaufstellen wie die TAS, das Herold-Center oder Büchereien haben geschlossen. Einnahmequellen wie das Flaschensammeln, Betteln oder Verkaufen der Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt werden kleiner.

Viele meiden Obdachlose noch mehr als sonst

In den Fußgängerzonen sind nicht mehr so viele Menschen unterwegs, viele meiden aus Angst vor einer Ansteckung den Kontakt zu Obdachlosen noch mehr als sonst. Selbst einen Corona-Test durchzuführen, ist für Menschen auf der Straße eine große Hürde. Anfang Dezember habe es im Winternotprogramm einen Verdachtsfall gegeben, berichtet Tabea Müller. „Ein Obdachloser hat gehustet und typische Erkältungssymptome gezeigt. Wir haben sofort das Gesundheitsamt alarmiert.“ Doch die Behörde sei völlig überfordert gewesen.

Zunächst wollte niemand den Mann testen, weil er keine Krankenversicherung hatte. Die Kassenärztliche Vereinigung hat empfohlen, zur Teststation in Borstel zu fahren – doch als Obdachloser, der sich eventuell mit Corona infiziert hat, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Borstel zu fahren, war nicht die beste Lösung. Am Krankenhaus hat man ihn abgewiesen. Erst zwei Tage später kam ein Arzt zum Testen in die Einrichtung, der Verdacht bestätigte sich glücklicherweise nicht. „Es wird so viel Wirbel um die Gesundheit der Menschen gemacht – und mit so einer Situation geht man so nachlässig um.“ Danach habe sich das Prozedere aber verbessert.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Bevor Obdachlose das Winternotprogramm betreten, werden keine Schnelltests durchgeführt, wie es etwa in Altenheimen üblich ist. Das Diakonische Werk Schleswig-Holstein hält dies allerdings für dringend notwendig. Eine ehrenamtliche Krankenschwester hat sich in Norderstedt bereits angeboten. Wie genau die Tests realisiert werden sollen, befindet sich noch in der Klärung. „Es wäre ein guter Schritt“, sagt Müller. Noch wichtiger wäre es allerdings, die TAS wieder zu öffnen.