Kaltenkirchen. Ein Historiker und Schüler des Gymnasiums haben Erinnerungen und Berichte über das Ende des Krieges als Buch veröffentlicht
Ohne die Arbeit an einem neuen Buch über die Geschichte Kaltenkirchens hätte Letizia Kukolic viele Details aus dem Leben ihres Großvaters nie erfahren. Die Schülerin des Gymnasiums hat den 88-Jährigen als Zeitzeugen befragt, wie er in der Stadt das Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft erlebt hat. Er habe sich gefreut, darüber erzählen zu dürfen, sagt die Schülerin des zwölften Jahrgangs. Seine Erinnerungen sind nachzulesen in dem Buch „Kaltenkirchen wird nicht verteidigt“, das der Historiker Gerhard Braas in Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern geschrieben hat.
„Das war die letzte Chance, noch mit Zeitzeugen zu sprechen“, sagt Braas, der vor seiner Pensionierung als Lehrer gearbeitet hat, dem Vorstand des Trägervereins der KZ-Gedenkstätte angehört und mehrere Arbeiten über die Geschichte Kaltenkirchens veröffentlicht hat. Bei einer seiner historischen Stadtführungen überreichte ihm ein Gast eine Tüte mit Dokumenten, die den Grundstock für die Recherchen an dem neuen Buch bildeten. In der Tüte fand Braas diverse Dokumenten von Kaltekirchener Bürgermeistern aus der NS-Zeit und über den Zusammenbruch im Mai 1945.
In den 18 Monaten, in denen Braas danach recherchierte und schrieb, brachte sein Sohn ihn auf die Idee, die 35 Schüler des Gymnasiums zur Mitarbeit einzuladen, die sich im zwölften Jahrgang mit dem Nationalsozialismus ausführlich beschäftigten. Fachschaftsleiter Tobias Thiel war von der Idee begeistert. Braas lieferte eine Namensliste von rund 30 Zeitzeugen aus Kaltenkirchen. „Ich bin ein Ureinwohner der Stadt“, sagt Braas. Daher kenne er viele Menschen in der Stadt. Die Schüler und Schülerinnen nahmen Kontakt auf und führten die Interviews.
Zwei Stunden sprachen die 18-jährige Letizia und eine Mitschülerin mit ihrem Großvater. „Manchmal wurde er leise und still“, sagt die Schülerin. Dann ging es zum Beispiel um die Häftlinge aus dem KZ-Außenlager, die er als junger Mensch gesehen hatte. „Es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen“, sagt Letizia. Wie Gespräche mit Zeitzeugen geführt werden sollten, hatten die Schüler vorher im Unterricht beim Thema „Oral History“ – also der mündlich überlieferten Geschichte von Zeitzeugen – gelernt. Die Fragen entwickelten sie selbst.
Auch Marie Licht (17) erlebte, wie schwer es Menschen auch nach Jahrzehnten noch fällt, über die Vergangenheit zu erzählen. Sie sprach mit einem Kaltenkirchener, dessen Schwester nach dem Krieg durch einen Blindgänger getötet wurde. „Ich wusste nicht, was ich in dem Moment sagen sollte“, berichtet die Schülerin.“
Im dem Interview, das Hannah Viktorim (19) führte, sprach der Zeitzeuge ebenfalls über das KZ-Außenlager im Ortsteil Springhirsch. „Wir wussten, dass dort ein Lager war“, sagte der Mann, der sich auch an Morde und die Namen der Opfer erinnern konnte. Am Abend des 3. Mai 1945 tötete die Waffen-SS im Nachbardorf Kampen, nur etwa zwei Kilometer von Kaltenkirchen entfernt, zehn jugoslawische Zwangsarbeiter.
Max Ellger (17) stellte bei den Gesprächen fest, dass immer mehr Erinnerungen zu Tage traten, je länger das Gespräch dauerte. Dabei sei ihm stets klar gewesen, dass die meisten Zeitzeugen 1945 Kinder waren und aus dieser Perspektive berichteten.
Nach Braas’ Einschätzung schließt das Buch an den Zeitraum an, den der verstorbene Gerhard Hoch in „Zwölf wiedergefundene Jahre“ beschrieben hat. Der Mitbegründer der KZ-Gedenkstätte hatte sich in seinem Werk auf die NS-Verbrechen in Kaltenkirchen konzentriert und dabei weitgehend die Aussagen von Zeitzeugen verarbeitet. Braas nutzt neben den Interviews viele Quellen aus Archiven und Tagebüchern, die mit Fußnoten belegt sind. Außerdem recherchierte der Historiker im Imperial War Museum in London.
In dem Buch unterteilte Braas drei geschichtliche Abschnitte: „Zusammenbruch der NS-Herrschaft“, „Dramatische Tage im Mai“ und „Unter britischer Besatzung“. Als die Interviews schriftlich vorlagen, ordnete Braas sie den Kapiteln zu. „Die Schüler haben die Transkription super und sehr genau genau erledigt“, sagt Lehrer Tobias Thiel. Dabei seien 150 Seiten mit authentischen Gesprächen zusammengekommen.
Für Letizia Kukolic war das Interview eines der letzten Gespräche mit ihrem Großvater. Er starb im Oktober.