Henstedt-Ulzburg. 50 Jahre Henstedt-Ulzburg: Annemarie Wenk ist im Herzen des ehemaligen Dorfes aufgewachsen. Was ihr fehlt, sind eine Post und eine Bank.
Wenn Annemarie Wenk aus dem Küchenfenster blickt, sieht sie zwei Welten, die hier, im Kern des Ortsteils Henstedt, buchstäblich aufeinanderprallen: Schräg gegenüber die alte Reetdachkate, die bis in die 1990er-Jahre ein überdimensionaler Gemeinschaftskühlschrank für Henstedter Familien war. Direkt neben dem historischen Eishaus stehen moderne Neubauten. Davor fließt der Verkehr. Er fließt und fließt und fließt… Den ganzen Tag lang brausen hier Pkw, Lkw und Motorräder, um entweder in Richtung Kisdorf oder Wakendorf II und damit in Richtung Ostsee zu fahren. Mitten in Henstedt ist Annemarie Wenk aufgewachsen, und auch heute, mit 66 Jahren, lebt die Vorsitzende des ortsumfassenden Vereins Bürgeraktiv noch hier.
Annemarie Wenk hat die Entwicklung hautnah erlebt. 1961 sind ihre Eltern nach Henstedt gezogen, um hier ein Lebensmittelgeschäft zu eröffnen. Der Edeka-Laden war so etwas wie ein Ortsmittelpunkt, die vorbeifahrenden Autos störten nicht, weil es nicht viele waren. Heute wird in dem Gebäude des früheren Ladens Kuchen und Eis verkauft. Das inzwischen etablierte Café am Wöddel steht an einer brodelnden Verkehrsader, die eigentlich gar keine sein sollte und die dafür auch nicht gut geeignet ist. Für Familie Wenk, die direkt daneben wohnt, bedeutet das: Erhöhte Wachsamkeit beim Verlassen der Grundstücksausfahrt mit dem Auto. Ein auf der anderen Straßenseite angebrachter Spiegel hilft beim Einblick in die kurvige Straße.
Hier setzt die Kritik von Annemarie Wenk ein: „Den Ulzburgern ist der Verkehr in Henstedt doch wohl ziemlich egal.“ Eingaben, hier doch bitte Tempo 30 einzuführen, fanden bisher keine Beachtung. Trotzdem: Sie und ihr Mann finden es schön, hier im Herzen des ehemaligen Dorfes Henstedt zu leben. „Ich bin froh, hier aufgewachsen zu sein.“ Auch ihre drei, inzwischen erwachsenen Kinder haben sich hier wohlgefühlt.
Der Rundgang durch den Ortskern beginnt am alten Schulgebäude, das 1912 errichtet wurde. Zwischenzeitlich war es Heimat des Deutschen Roten Kreuzes, 1987 ist dort ein Kindergarten eingezogen. 1961 ist Annemarie Wenk hier eingeschult worden, was für sie einen Schulweg von knapp 50 Metern bedeutete. Sie erinnert sich, dass im Ober- und Dachgeschoss Lehrerwohnungen untergebracht waren, hinter dem Gebäude die Lehrergärten lagen. „Der Schulhof vor dem Haupteingang war unser abendlicher Treffpunkt zum Völkerballspielen.“
1967 wurde der Neubau der Henstedter Volksschule (die heutige Olzeborchschule an der Beckersbergstraße) an der Gemeindegrenze zu Ulzburg eingeweiht.
Auf dem ehemaligen Gartengelände steht heute ein Freizeitensemble mit Bänken und dem Wöddelbrunnen. Vor sieben Jahren mit viel Trara eingeweiht, aber von den Henstedtern längst links liegengelassen. Annemarie Wenk ärgert sich über diese Anlage: „Niemand weiß, was der Brunnen bedeuten soll, weil kein Hinweisschild vorhanden ist, auf den Bänken sitzt kaum mal jemand, weil die Aussicht auf den Wöddelteich zugewachsen ist.“ Sie hätte sich eine andere Nutzung für den zentralen Platz mitten im Ortskern gewünscht – zum Beispiel einen Treffpunkt für Kinder und Jugendliche, um die Gemeinschaft in Henstedt zu fördern.
Die sieben geschwungenen Rinnen der Brunnenskulptur symbolisieren übrigens die sieben Wege, die im Mittelalter vom Wöddel als Dorfmittelpunkt aus Henstedt herausführten. Um die Symbolik perfekt zu machen, stehen rund um den Brunnen sieben Bänke. Aber: Wer weiß das schon?
Der Wöddelteich ist eine Oase der Ruhe und Beschaulichkeit
Neben dem Brunnen befindet sich der verschlickte und zugewachsene Wöddelteich, der seit 50 Jahren als Regenrückhaltebecken genutzt wird. Annemarie Wenk ist hier als Kind noch mit Schlittschuhen gelaufen. Auf der kleinen Insel in der Mitte steht ein Graureiher und inspiziert ganz gelassen das Wasser. Eine Oase der Ruhe und Beschaulichkeit – wenn nur nicht der unablässig dröhnende Straßenlärm wäre.
Dahinter das alte Spritzenhaus der Feuerwehr, in dem viele Jahre die Landjugend Henstedt und Umgebung ihr Quartier hatte. Schräg gegenüber das Gebäude, in dem einst die Henstedter Schmiede untergebracht war. Zur dörflichen Atmosphäre trägt auch ein Stück weiter westlich der Schosterkrog an der Dorfstraße bei. Das Hotel und Restaurant Scheelke an der Kisdorfer Straße bietet seit 1903 Getränke und Speisen von gehobener Qualität an. Gegenüber steht die 1880 eingeweihte Backsteinkirche, die seit 1970 den Namen Erlöserkirche trägt. Mit dem Kirchenbau war auch die Anlage des Friedhofes in Henstedt verbunden, der bis heute der einzige in der Großgemeinde geblieben ist.
Früher war der seit 1892 bestehende Neue Weg in der Nähe der Kirche die „Geschäftsstraße“ Henstedts mit Schlachter, Lebensmittelgeschäften, einem Textilhaus und verschiedenen Handwerkern, heute bietet nur noch der Discounter Netto am Henstedter Kreisel alles für den täglichen Bedarf.
Annemarie Wenk bedauert den Rückgang des Geschäftslebens im Ort, aber sie weiß auch, dass die Überlebenschancen für kleinere Lebensmittelläden nicht groß wären. „Was hier in Henstedt fehlt, sind eine Post und eine Bank oder Sparkasse“, findet sie.
In Henstedt gibt es immer noch große Grünräume
Mit Gründung der Großgemeinde im Jahre 1970 setzte auch der Bauboom in Henstedt ein. Höfe wurden ausgesiedelt, Neubaugebiete mit Einzelhäusern, Reihenhäusern und Wohnblocks entstanden auf den ehemaligen Hofplätzen, der dörfliche Charakter verschwand mehr und mehr, das Leben im Ort wurde anonymer. Aber ein gewisser Charme ist dem Ortsteil auch heute nicht abzusprechen. Es gibt immer noch große zusammenhängende Grünräume, in den südlichen und östlichen Randlagen auch noch einige Hofstellen.
Wer mit offenen Augen unterwegs ist, entdeckt interessante Ecken und alte Gebäude, die hoffentlich noch lange erhalten bleiben und keiner zeitgemäßen Wohnbebauung weichen müssen. Und natürlich sind es nur wenige Schritte hinaus in die Natur. Naherholung ist hier kein leeres Wort: Über den Wohldweg geht es schnell in das Naturschutzgebiet Oberalsterniederung.