Tangstedt. Jäger kritisieren, dass Autofahrer ihrer Pflicht zur Meldung eines Wildunfalls nicht nachkommen – für die Tiere eine grausame Qual.
Reinhard Ahrens ist seit 34 Jahren Jäger. Doch was der Wilstedter kürzlich mitansehen musste, war selbst für einen Mann mit seiner Routine erschütternd.
Es sei an einem Donnerstagabend, zwischen 18 und 19 Uhr, gewesen. „Da bin ich von der Leitstelle West angerufen worden.“ An der Wakendorfer Straße, also zwischen Wilstedt und Wakendorf II, warteten zwei Radfahrer. Diese hatten ein schwer verletztes Reh gesehen, das sich in ein Maisfeld schleppte und dann in den nächsten Knick.
Jäger wie Ahrens haben die Pflicht, solchen Hinweisen nachzugehen, um Wildtiere zu erlösen oder sich um die Kadaver zu kümmern. „Ich habe Hans-Jürgen Pump, den Wakendorfer Jäger, hinzugeholt. Ich habe ihm gesagt: Bring eine Waffe mit. Das Tier muss schwer verletzt sein. Wir haben dann nachgesucht und ein Reh im Knick gefunden.“ Der grausame Anblick: Beide Hinterläufe waren fast gänzlich abgetrennt, schleiften nur noch hinterher, die Wunden waren verdreckt und verkrustet. „Das Tier muss sich richtig gequält haben. Wir mussten es töten“, so Ahrens. „Es war eine Ricke. In dieser Zeit heißt das, dass sie sicherlich auch Kitze hat. Die sind dann allein.“ Und ohne säugende Mutter nur mit geringer Überlebenschance.
Dass es sich um einen Wildunfall handelte, der angesichts des Zustandes des Tieres schon eine gewisse Zeit zurücklag, davon waren die Jäger sofort überzeugt. Der Bereich rund um die Alsterwiesen ist ein bekannter Gefahrenpunkt: Hier kreuzt das Wild, und hier wird gerast.
An den nächsten beiden Tagen gab es weitere Unfälle, einmal erneut mit einer Ricke, dann war es ein junger Rehbock. „Da hat die Polizei Nachricht bekommen und uns angerufen.“ Nicht aber beim ersten Vorfall. „Im Sinne des Tierschutzgesetzes ist man verpflichtet, das zu melden. Wer einem Tier ein solches Leid zufügt, ist verpflichtet, mindestens die Polizei zu rufen.“ Dass jemand einen derartigen Zusammenstoß nicht bemerkt, hält Ahrens für ausgeschlossen. „Das Auto hatte auf alle Fälle einen Schaden.“
Polizeilich erfasst wurden 2018 landesweit 15.686 Wildunfälle sowie 17.590 für 2019. Im Kreis Segeberg waren es 542 (2018) und 706 (2019), im Kreis Stormarn, zu dem Tangstedt gehört, 314 und 321. Auch die Zahlen für die ersten Quartale des laufenden Jahres liegen bereits vor: Von Januar bis März waren es in Segeberg 109, bis Juni weitere 197 – und in Stormarn 42 beziehungsweise 44. Hinzu kommen jeweils noch die Unfälle im Bereich der Autobahnen. Eine Dunkelziffer gibt es grundsätzlich immer. Der Landesjagdverband trägt daher zusammen mit Revierpächtern auch alle Tierfunde in einem Kataster zusammen.
Allein für Wilstedt berichtet Reinhard Ahrens von 35 Wildunfällen im letzten Jahr. In diesem Frühjahr habe es wegen der Corona-Einschränkungen weniger Verkehr gegeben, spätestens ab Herbst, also zur Brunft, werden die Zahlen wieder steigen. Dann treiben Rehe umher – und auch Hirsche. Kürzlich wurde am Kringel Damwild beobachtet – dieses wechselt regelmäßig zwischen dem Forst Endern und dem Duvenstedter Brook. Das führt zu einem Unfallrisiko auf der Harksheider Straße und der Tangstedter Straße.
Auch der Golfclub Hamburg-Oberalster bittet die Jäger manchmal um Hilfe. Seit ungefähr sechs Jahren gibt es in der Gegend Wildschweine, 2019 wurden 16 geschossen, das war ein neuer Rekord. Im Glasmoor ist eine feste Rotte heimisch. Ein Unfall mit einem Wildschwein kann sehr gefährlich werden. Abgesehen davon, dass ein Kleinwagen erheblich demoliert wird, sind angefahrene Bachen oder Keiler aggressiv.
Angefasst werden dürfen die Tiere nicht. Ein Beispiel, von dem Jäger berichten, betrifft einen Unfall im Bereich des Glashütter Wegs. Dort hatte an einem Sonntag zur Mittagszeit eine Bache mit Nachwuchs die Fahrbahn überquert. Es kam zu einem Unfall, ein Frischling wurde erwischt. Die Verursacherin handelte – wohl unter Schock – komplett falsch, packte das Tier ins Auto und fuhr in ein Hamburger Tierheim. Rechtlich sei das Wilderei, so Ahrens. „Und die angefahrenen Tieren haben innere Verletzungen, die verbluten. Dazu müssen wir bei Wildschweinen Proben nehmen.“ Wegen der Afrikanischen Schweinepest, die aber bisher nicht in Deutschland aufgetreten ist.
Jäger haben ihr Telefon immer eingeschaltet. Auch nachts. Falls ein verletztes Tier weggelaufen ist, wird dann in der Dunkelheit die Unfallstelle markiert, sodass am Morgen ein Nachsuche-Hund die Fährte aufnehmen kann. Eine Zeit lang haben die Jäger der Gemeinde an Landstraßen Kreuze als Warnung aufgestellt, an Punkten, wo Wildunfälle passiert waren. Das zuständige Straßenverkehrsamt Bargteheide entfernte die Markierungen, weil diese nicht erlaubt seien. Dafür gibt es die blauen Wildwarnreflektoren, die Tiere davon abhalten sollen, die Straße zu queren, wenn sich ein Fahrzeug nähert. „Die bringen etwas. Es reicht, wenn sie nur einen Unfall vermeiden“, sagt Reinhard Ahrens. Ansonsten bleibt ihm nur ein Appell: „Autofahrer, seid vorsichtig. Haltet euch an die Geschwindigkeit. Und wenn ein Schild auf Wildwechsel hinweist – das steht nicht ohne Grund dort.“