Bad Segeberg. Weil Winnetou und Co. wegen der Corona-Pandemie nicht am Kalkberg auftreten können, werden jetzt Führungen angeboten.
Es rumort in der Umkleidekabine. Eine markige Männerstimme beschwert sich über die Ruhestörung. Dann wird die Tür aufgerissen und heraus stürmt einer der tapferen Helden, die jeden Sommer den Drang haben, die Welt vor dem Bösen zu retten. Zumindest die Welt in den Weiten der Prärie, die Welt der knarzigen Cowboys und der leidenden Indianer.
Joshy Peters, einer der dienstältesten Schauspieler in der Segeberger Karl-May-Riege, steht in den Mittagsstunden dieses heißen Tages plötzlich vor den Teilnehmern einer Backstage-Führung, die hinter die Kulissen der Freilichtbühne etwas Theaterluft schnuppern wollen. Obenherum sieht der Hamburger Schauspieler stilecht wie ein Trapper oder Cowboy aus, unten herum eher nicht. Aber, wer weiß es schon: Vielleicht hatten die echten Cowboys gelegentlich beim Viehtrieb ja auch kurze Hosen an. Jedenfalls stört sich in diesem Augenblick niemand an diesem ungewohnten Anblick.
Joshy Peters ist die Überraschung des Tages. Zur Gewohnheit wird sein Auftritt in den nächsten Wochen allerdings nicht werden – es ist eine Ausnahme, die wohl auf die Anwesenheit eines TV-Teams zurückzuführen ist. Ein Kamerateam der NDR-„Nordtour“ dokumentiert hier, wie die Segeberger Karl-May-Spiele ohne Aufführungen über die Runden kommen. Wo sonst Indianer laut schreiend reiten und die Cowboys wild um sich schießen, herrscht nun absolute Ruhe. Die Kalkberg-Arena bleibt in dieser Saison geschlossen, weil die Spiele coronabedingt abgesagt werden mussten. Am Sonnabend wäre eigentlich Premiere für das Stück „Der Ölprinz“ gewesen, aber es gibt und gab keine Proben, der Vorverkauf wurde abgebrochen, die Schauspieler reisten nicht an.
Bis auf Joshy Peters an diesem Tag. „Ein Sommer ohne Karl May, das ist schon sehr, sehr merkwürdig“, sagt der Hamburger Schauspieler, der seine Kollegen schmerzlich vermisst. Und die treuen Fans der Segeberger Aufführungen vermissen ihn. Aber ganz verzichten muss niemand: Wer will, kann sich erklären und zeigen lassen, wie es hinter den Kulissen aussieht. Denn die Stadt Bad Segeberg hat aus der Corona-Not eine Tugend gemacht und bietet erstmals in der Geschichte der Karl-May-Spiele öffentliche Führungen an.
Die Nachfrage nach den Tickets ist sehr groß
90 Minuten lang ist eine Karl-May-Aufführungen, 90 Minuten dauert eine Führung. Was zunächst vorsichtig begonnen wurde, hat sich inzwischen zu einer echten Attraktion entwickelt. Die Nachfrage nach den jeweils 20 Tickets ist so groß, dass die Touren stark ausgeweitet werden mussten. Von montags bis freitags geht es bis zum 30. September jeweils zweimal pro Tag hinter die Kulissen. Viele Führungen, vor allem im Juli und August, sind bereits ausgebucht.
Manche Besucher nehmen eine lange Anreise in Kauf, um am Kalkberg etwas Karl-May-Luft zu schnuppern. So wie Anke Jakubzik (33) aus Krefeld, die den Tripp nach Bad Segeberg angetreten hat, weil sie seit vielen Jahren ein Fan der Indianerspiele ist. Sie kennt auch die Spiele im sauerländischen Elspe, aber hinter die Kulissen durfte sie noch nie schauen. Am Kalkberg steht ihr und den 19 anderen Teilnehmern mit Susanne Funk eine erfahrene Stadtführerin zur Seite. Sie kennt viele Geheimnisse, Anekdoten und Besonderheiten der Segeberger Inszenierungen.
Backstage erfahren die Besucher, wie eine Aufführung auf der Freilichtbühne funktioniert, was alles zusammenspielen muss, damit Darsteller und Tiere im richtigen Moment auf der Bühne sind, obwohl die Handlung hinter den Kulissen nicht wirklich verfolgt werden kann. Sekundengenaue Anweisungen aus der Schaltzentrale, die im Regieturm hinter den Zuschauerrängen untergebracht ist, sind nötig. Die wiederum gibt der Inspizient hinter der Bühne an die Darsteller weiter. Susanne Funk kann auch berichten, wie das Licht-, Ton- und Produzententeam im Regieturm bei Laune gehalten wird: „Ohne Gummibärchen sind die nicht arbeitsfähig.“
Sie führt die Besucher durch verdeckte Gänge, zeigt ihnen die auf einem Tisch liegenden Waffen und beweist, dass Dynamitstangen in Wirklichkeit zersägte und rot angemalte Besenstiele sind. Die Norderstedter Krimi-Autorin Angelika Waitschies, selbst ein großer Karl-May-Fan, nutzt die Gelegenheit und greift spontan zu einem Riesenmesser, um sich mitsamt der Mordwaffe von einer Freundin fotografieren zu lassen. Ein Foto, das vielleicht mal zu gebrauchen ist. Die Schriftstellerin nimmt an der Führung teil, weil sie gerade ein Buchmanuskript abgegeben hat und jetzt mehr Zeit für den Spaß im Leben hat.
Besonders beliebt sind natürlich Schauspieler-Anekdoten, von denen Susanne Funk eine ganze Menge kennt. Winnetou-Darsteller Jan Sosniok, so berichtet sie, habe bei Vertragsunterzeichnung überhaupt nicht reiten können. Dagegen war sein Kollege Wayne Carpendale, der Old Shatterhand von 2013 und 2014, ein echter Könner, der sogar auf das Pferd springen konnte. „Das hat Jan total genervt, und er hat heimlich geübt. Während der letzten Vorstellung hat er es dann auch geschafft.“ Den Ausfall seine Mikrofons während einer Vorstellung habe Jan Sosniok überspielen können, indem er in die Mikrofone der jeweils in der Nähe stehenden Kollegen gesprochen habe.
Die Darsteller fühlen sich als eine große Familie
Susanne Funk erzählt von dem guten Arbeitsklima und den „flachen Hierarchien“ unter den Mitwirkenden. „Hier duzen sich alle, von den Hauptdarstellern bis zu den Komparsen.“ Überraschungsgast Joshy Peters kann das bestätigen: „Wir sind eine große Familie. In diesem Jahr fehlt uns ein großes Stück im Leben.“ Die Arbeit, so sagt er, sei für die Mitwirkenden der Karl-May-Spiele eher der kleinere Effekt.
Elke Möller hört zusammen mit ihrer Tochter Lisann gebannt zu, was Susanne Funk zu berichten hat und was sie ihnen zeigt. Die 55 Jahre alte Segebergerin war 1999 in einer Vorstellung im Freilichttheater, nachdem ein Feuer die Kulissen zerstört hatte und der damalige Regisseur Pierre Brice das Stück umschreiben musste. „Damals war ich schwanger, heute stehe ich mit meiner inzwischen 20 Jahre alten Tochter hinter den Kulissen“, sagt sie. „Das ist schon ein tolles Gefühl.“ Zwillingsbruder Felix ist zu Hause geblieben.
Karten für die letzte Vorstellung der Saison 2021 hat Elke Möller übrigens schon gekauft. Gespielt wird dann das für dieses Jahr geplante Stück „Der Ölprinz“ mit allen Darstellern, die auch für dieses Jahr eingeplant waren. Zum Beispiel Katy Karrenbauer, Sascha Hehn und natürlich Winnetou-Darsteller Alexander Klaws.