Bad Segeberg. Vor 75 Jahren wurde in Bad Segeberg Selbstverwaltungsorganisation gegründet. Gefeiert wird Jubiläum wegen der Corona nicht.
Die in Bad Segeberg an der Bismarckallee ansässige Ärztekammer Schleswig-Holstein vertritt als unabhängige, demokratische Institution die Interessen von 18.500 Ärzten im Norden. Heute auf den Tag vor 75 Jahren wurde die Kammer gegründet – die geplante Jubiläumsveranstaltung fällt wegen der Corona-Pandemie allerdings aus.
Rückblick: Im Juni 1945 erhalten die Ärzte Berthold Rodewold aus Kiel und Hans Stubbe aus Heide von der englischen Militärregierung den Auftrag, die medizinische Versorgung der notleidenden Bevölkerung unmittelbar nach dem Krieg im nördlichsten Bundesland neu zu organisieren. Schleswig-Holstein steht vor enormen Herausforderungen: Wohnraumnot, aufkommende Infektionskrankheiten, Seuchenausbrüche und eine beispiellose Flüchtlingswelle kennzeichnen die Zeit. ,,Hauptbeweggrund, eine Ärztekammer im Land zu etablieren, war, die medizinisch-ärztliche Versorgung angesichts der großen Flüchtlingsströme vor allem aus dem Osten, aber auch aus Hamburg sicherzustellen“, sagt Kammerpräsident Prof. Henrik Hermann.
Mit den Jahren gibt es neue Anforderungen: Ein eigenständiges Versorgungswerk kommt hinzu. Ein Ombudsverein, eine Ausbildungseinrichtung für Arzthelferinnen, Arzthelfer und für die Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzte sind weitere Meilensteine der ärztlichen Selbstverwaltung.
Qualitätssicherung spielt eine sehr große Rolle
Neben Aus- und Fortbildungen, die heute in der Akademie an der Emmrichstraße in einem Nebengebäude der Kammer in Bad Segeberg stattfinden, spielt die Qualitätssicherung im Gesundheitswesen eine wesentliche Rolle. ,,Das Thema hat in den vergangen Jahren durch die Ökonomisierung und Kommerzialisierung im Gesundheitswesen sehr gelitten“, sagt Kammerpräsident Herrmann. ,,Es ging vor allem um Steuerung – nicht um die Qualität als solche. Wie kann ich die Behandlungen besser machen? Wie kann ich Prozesse und Ergebnisse besser machen? Darum geht es heute.“
Um das zu erreichen, werden gesetzliche Regeln für die Berufsausübung der Ärzte bei Bedarf angepasst. Jüngstes Beispiel: Fernberatung und Fernbehandlung. ,,Die Beratung mit Telekommunikationsmitteln war verboten, wenn der Arzt den Patienten nicht vorher mindestens einmal persönlich getroffen hat“, sagt der Kammerpräsident. ,,Wir haben erreicht, dass die Berufsordnung entsprechend verändert wurde. Der Arzt entscheidet jetzt selber bei einem ihm nicht bekannten Patienten, der ihn anruft oder per Video zugeschaltet ist, ob eine telefonische Beratung oder Handlungsanweisung ausreicht. Oder ob der Patient in die Praxis kommen soll.“
Telemedizin ist auf dem Vormarsch. ,,Es kann durchaus sein, dass ein Arzt gar nicht mehr in seiner Praxis sitzt, sondern vom Sofa aus, am Strand, an der Adria oder auf Mallorca ausschließlich Telemedizin betreibt“, sagt der Präsident. Ein neuer Kernbereich der Kammer ist die digitale Transformation. Rezepte und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen etwa auf elektronischem Wege, computergestützte Befunde und automatisierte Auswertungen eines Röntgenbildes anhand von Algorithmen. Das alles klingt für einige wie Zukunftsmusik, ist mit Hilfe sogenannter künstlicher Intelligenz jedoch bereits Realität. Aber ist es auch sinnvoll? Und wo liegen die Grenzen?
,,Wir sind als Ärzte so ausgebildet, dass wir den Patienten komplett erfassen, ihn in der Regel per Handschlag begrüßen, dabei sofort spüren, ob er heiß ist. Es gibt einige innere Krankheiten, die kann man tatsächlich sogar riechen“, sagt Carsten Leffmann, der Ärztliche Geschäftsführer der Einrichtung. ,,All das bietet weder ein Telefonat noch ein Video. Wir sind deshalb dabei, scharf abzugrenzen, was fernbehandlungsmäßig geht und was nicht. Wann muss ich dem Patienten mit meinen Händen auf den Bauch fassen, um mir ein Bild zu machen, wann nicht? Solche Fragen müssen geklärt werden“, sagt Leffmann.
Heute wie vor 75 Jahren geht es jedoch vor allem um die Überlegung, wie ärztliche Versorgung in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein mit 2,7 Millionen Einwohnern auch in fünf bis zehn Jahren sichergestellt werden kann. ,,Wir werden nicht mehr Ärzte werden“, sagt Herrmann. ,,Das Arbeitsumfeld im ärztlichen Kontext wird sich weiterhin ändern. Aufgaben werden sich ändern – hin zu mehr Teilzeit, mehr Pausen, mehr Teamorientierung.“ Den niedergelassenen Arzt, der 35 Jahre lang am selben Ort in seiner Praxis im selben Fachgebiet arbeitet, wird es immer seltener geben. ,,Das Fachgebiet zu wechseln, ist heute schon Trend“, so der Kammerpräsident.
Bestimmte Berufsgruppen im Gesundheitswesen könnten heilkundliche Aufgaben übernehmen, die heute noch Ärzten vorbehalten sind. Es werde Praxen ohne Arzt geben, die eng mit den Ärzten vernetzt sind. Statt Fallpauschalen, von denen vor allem Kliniken profitieren, könne es an die Bevölkerungsstruktur angepasste, regionale Budgets geben. ,,Dann ist es egal, welcher medizinische Sektor es macht. Es macht dann derjenige, der es am besten kann und die besten Ressourcen hat“, sagt Herrmann.
Wichtig bleibt das persönliche Beratungsgespräch
,,Wir brauchen besser qualifizierte Gesundheitsberufe – gern auch durch Weiterbildungen. Aufgabe der Ärztekammer wird es sein, diesen Weg in der Weiter- und Fortbildung zu thematisieren und für die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen zu sorgen“, betont der Kammerpräsident. Bestimmte ärztliche Leistungen wie Ultraschall, Wundversorgung oder einfache Diagnosen könnten gut ausgebildete medizinische Fachkräfte erledigen, damit Ärztinnen und Ärzte wieder mehr Zeit für ihre Kernaufgabe haben: das ärztliche Beratungsgespräch.
Den Mittelweg zwischen ärztlicher Präsenz und Digitalem zu finden, sei eine große Herausforderung. ,,Das ist auch etwas, was die Corona-Zeit uns lehrt – dass man das Gefühl hat, dass das Pendel jetzt genau zur anderen Seite schlägt. Nach dem Motto: ,Es geht jetzt alles nur noch digital.‘“ Ein fataler Irrtum, glaubt der Professor. ,,Wie krank wird es die Menschen machen, wenn sie jahrelang nur zu Hause im Homeoffice sind? Der Mensch ist ein soziales Wesen! Gerade im Kontext von Gesundheit und Krankheit braucht der Mensch die Empathie, die Zuneigung, die nonverbale Kommunikation, das Fühlen, die fünf Sinne“, sagt Herrmann.