Kaltenkirchen. Noch kurz vor Kriegsende verübte die SS in dem damaligen Dorf und der Umgebung zahlreiche Verbrechen.
Kaltenkirchener, die wir als Schicksalsgenossen, ob eingesessen oder hinzugeweht, das schwere Erbe anzutreten haben, welches das Tausendjährige Reich bereits nach zwölf Jahren hinterlassen hat. Es ist das schlimmste Erbe, das jemals Überlebende übernommen haben, und dennoch muss es angetreten werden. Statt Soldatenmut hat der Deutsche fortan in jeder Situation eben Zivilcourage zu zeigen.“ Dieses Zitat stammt aus einer Rede von Hans Stockmar, Inhaber der Kaltenkirchener Wachsschmelze und aktiver Gegner der Nationalsozialisten.
Er sprach diese Worte unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Hitler-Regimes und der Besetzung Kaltenkirchens durch britsche Soldaten. Am 5. Mai besetzten sie seine Heimatgemeinde, der Krieg war nach sechs Jahren vorbei. „Das Ende des 2. Weltkrieges war damit auch das Ende des alten Kaltenkirchen.“ Dieser nüchterne Satz aus der Festschrift zum 25. Stadtjubiläum im Jahre 1998 galt für alle Menschen, die in der Ortschaft wohnten und sich dort zufällig oder unfreiwillig aufhalten mussten: Einheimische, Ausgebombte, Flüchtlinge und Soldaten, aber auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.
Sie erlebten das Kriegsende allerdings grundverschieden: als Niederlage und Zusammenbruch, als Befreiung oder – wie Hans Stockmar – auch als Chance für einen Neuanfang.
Historische Begegnung beim Gasthof „Bilsener Wohld“
Auf der Reichsstraße 4, der heutigen Bundesstraße 4, war es am Tag zuvor, dem 4. Mai 1945, zu einer historischen Begegnung gekommen: Britische Einheiten trafen am Abzweig nach Barmstedt beim Gasthof „Bilsener Wohld“ eine deutsche Wehrmachtsdelegation, um sie zur Unterzeichnung der Teilkapitulation in das Hauptquartier des britischen Oberbefehlshabers Bernard Montgomery bei Lüneburg zu geleiten. Heute erinnert in Bilsen eine Gedenktafel des Schleswig-Hosteinischen Heimatbundes an dieses Ereignis.
Noch kurz vor Kriegsende verübte vor allem die SS in Kaltenkirchen und Umgebung zahlreiche Verbrechen – auf offener Straße und vor den Augen der einheimischen Bevölkerung. Dazu gehörten im April 1945 die Erschießungen während des Todesmarsches vom Gefängniskomplex Hamburg-Fuhlsbüttel in das sogenannte Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel-Hassee.
Die SS trieb die Gefangenen in mehreren Kolonnen nach Norden und ermordete mindestens neun von ihnen auf dem viertägigen Marsch, unter ihnen Josef Tichy am 12. April in Kisdorf-Feld, Peter Josef Beck und Hugo Kochendörffer am 13. April in Kaltenkirchen und Hamid Chamido am 14. April bei den Mergelkuhlen vor Bad Bramstedt. In Kaltenkirchen wurden im Pferdestall von „Hüttmanns Gasthof“, dem Parteilokal der NSDAP, zwei KZ-Häftlinge erschossen.
576 Häftlinge wurden verlegt
Am 16. April 1945 löste die SS das KZ-Außenlager in Springhirsch auf und verlegte alle 576 Häftlinge zusammen mit ihren 84 Bewachern und zwei SS-Offizieren. Der Fußmarsch zum Kaltenkirchener Bahnhof und der Transport mit der AKN in das Lager Wöbbelin in Mecklenburg führten die Gefangenen einer ungewissen Zukunft entgegen. Eine unbekannte Anzahl von ihnen kam noch vor Kriegsende ums Leben oder verstarb später an den Folgen von Verschleppung und Haft.
Am Abend des 3. Mai 1945 ermordeten Männer der Waffen-SS in der Gemeinde Kampen, nur etwa zwei Kilometer von Kaltenkirchen entfernt, zehn jugoslawische Zwangsarbeiter, die bereits seit mehreren Jahren für die örtlichen Bauern tätig waren. Die Leichen wurden am nächsten Tag auf dem Kaltenkirchener Friedhof bestattet.
Sichtbares Zeichen von Chaos waren nach der Flucht der Wehrmacht aus Kaltenkirchen ausufernde Plünderungen und Diebstähle durch die Kaltenkirchener Bevölkerung. Sie bediente sich an den Milchbeständen der Meierei an der Bahnhofstraße sowie an den Treibstoffvorräten am Bahnhof und leerte das Wehrmachtsdepot im Gasthof „Stadt Altona“ am Kleinen Markt, das verlassene Reichsarbeitsdienst-Lager an der Kieler Straße und die Flakbaracken in und um Kaltenkirchen. Die größten Plünderungen fanden auf dem bis zuletzt militärisch genutzten Flugplatz und die angrenzenden Lagerkomplexen statt.
Den britischen Soldaten bot sich ein Bild des Grauens
Die Teilkapitulation der Wehrmacht ermöglichte den Briten am 5. Mai 1945 die sofortige Übernahme der deutschen Flugplätze. Das besondere Augenmerk galt den modernen Düsenflugzeugen der Luftwaffe. Das 2819-Light-Anti-Aircraft-Squadron, eine Bodentruppe der Royal Air Force, besetzte das Flugfeld Kaltenkirchen-Moorkaten kampflos und ohne Blutvergießen.
Den britischen Soldaten bot sich ein Bild des Grauens und des menschlichen Elends, das die NS-Gewaltherrschaft hinterlassen hatte. Fast 1000 Menschen waren am Flugplatz in drei Lagern eingesperrt. In einem abgetrennten Bereich am Rande des Flugplatzes entdeckten die Briten zunächst ein Arbeitslager mit 200 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. In zwei weiteren abgetrennten Randbereichen traf der Spähtrupp auf zwei weitere Lager, belegt mit 400 beziehungsweise 300 russischen Kriegsgefangenen. Viele der Insassen waren krank und unterernährt.
Die deutschen Soldaten hatten vor ihrer Flucht alles noch verwertbare militärische Gerät und die technische Ausrüstung mitgenommen oder zerstört und das Flugplatzgelände vermint – Taktik der verbrannten Erde auch in Moorkaten. Die von den Briten vorgefundenen 25 bis 30 Maschinen waren nur noch Schrott.
Die Soldaten kümmerten sich sofort um die Gefangenen
Die Einnahme der Ortschaft Kaltenkirchen verlief an diesem 5. Mai ohne Zwischenfälle. Die Männer der Royal Air Force besetzten das Dorf mit zwei Panzerspähfahrzeugen und einem Kübelwagen. Sie durchsuchten zunächst einige Häuser. Das Gemeindeamt von NS-Bürgermeister Walther Schade befand sich damals in dem Gebäude mit dem charakteristischen Turm an der Holstenstraße, das heute noch steht. Schade musste schriftliche Befehle der Briten veröffentlichen. Die Bevölkerung durfte den Flugplatz sowie die angrenzenden Lagerkomplexe mit der Androhung sofortigen Erschießens nicht betreten. Sämtliche Gewehre, Jagdwaffen, Munition, Fernrohre und Fotoapparate mussten abgeliefert und die in Moorkaten geplünderten Gegenstände sollten wieder zurückgebracht werden.
Die britischen Soldaten kümmerten sich sofort um die Ernährung der russischen Kriegsgefangenen und ließen die Hungernden durch die Dorfbevölkerung mit Lebensmitteln versorgen. Die Einheimischen hatten sich bei ihren Plünderungen um die in unmittelbarer Nachbarschaft leidenden sowjetischen Kriegsgefangenen nicht gekümmert. Diese durften an diesem 5. Mai 1945 – dem Tag ihrer Befreiung – ihre Lager aber noch nicht verlassen und wurden noch kurzzeitig beköstigt. Das trug vermutlich auch dazu bei, dass die später durch Kaltenkirchen ziehenden und zum Teil mit Wehrmachtsgewehren bewaffneten Rotarmisten auf Racheaktionen verzichteten.
Die Bevölkerung wurde außerdem angewiesen, die Kriegsspuren zu beseitigen – Straßenhindernisse, Deckungslöcher und Splitterschutzgräben. Auf dem Grünen Markt, dem Platz vor dem heutigen Rathaus, war die Rasenfläche von ausgehobenen Splitterschutzgräben durchzogen.
Am 9. Mai verloren Schade und und alle NS-Gemeindevertreter ihre Posten Am selben Tag übernahm Kaufmann Wilhelm Siemssen als Vorsitzender eines von der Dorfgemeinschaft gewählten Dreiergremiums den Bürgermeisterposten in der Gemeinde. Doch der von Hans Stockmar initiierte Versuch einer eigenständigen demokratischen Erneuerung durch die einheimische Bevölkerung fand ein jähes Ende, als die kleine britische Einsatztruppe abgezogen und durch die regulären Besatzungssoldaten der „King’s Own Scottish Borderers“ ersetzt wurde.
Die Schotten machten Hans Saggau zum Verwaltungschef – er war Nationalsozialist und der dritte Bürgermeister Kaltenkirchens innerhalb von nur einer Woche.
Der Kaltenkirchener Historiker Gerhard Braas hat bereits mehrere Texte zur NS-Geschichte in seiner Heimatstadt geschrieben. Im Herbst wird sein neues Buch „Kaltenkirchen wird nicht verteidigt – das Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Herrschaft in Kaltenkirchen“ erscheinen.
Hans-Jürgen Kütbach, Vorsitzender des Trägervereins der KZ-Gedenkstätte Springhirsch (an der Bundesstraße 4), und sein Stellvertreter Gerhard Braas haben am Dienstag im Außenbereich der Gedenkstätte Blumen niedergelegt, um symbolisch an den Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus zu gedenken.