Norderstedt. Je länger die Coronakrise dauert, desto mehr Unternehmen und Bürger kommen in finanzielle Schieflage. Lage für viele Firmen existenzbedrohend.

Wie viele Unternehmen in Norderstedt und im Kreis Segeberg die Coronakrise wirtschaftlich nicht überleben werden, kann heute noch niemand qualifiziert beantworten. Existenzbedrohend ist die Lage aber für fast alle Firmen. „Momentan ist bei uns von einer Zunahme der Insolvenzen durch die Coronakrise noch nichts zu spüren“, sagt Reinhard Wrege, Direktor des Amtsgerichtes Norderstedt, „aber das ist wohl nur die Ruhe vor dem Sturm.“

Bei manchen Unternehmen in der Stadt wütet der Sturm schon in vollem Ausmaß. So hat etwa der Norderstedter Unternehmer Sven Bergerhausen für seine MICE access GmbH beim Amtsgericht Norderstedt das Insolvenzverfahren eröffnet. MICE – das steht für Meeting, Incentive, Convention und Event. Business-Tourismus, eine Branche also, die derzeit brutal getroffen wird.

Über den Norderstedter Technikanbieter können Nutzer direkt Hotels und Locations für Geschäftsreisen, Tagungen und Messeauftritte finden und buchen. Zu den Kunden des Buchungsportals zählen Agenturen, Reisebüros, Portale und Hotelketten. Laut dem Tourismus-Fachverlag FVW ist MICE access der größte Anbieter dieser Art in Deutschland.

Seit 13 Jahren führt Bergerhausen die Geschäfte seines Unternehmens vom Norderstedter Südportal aus. „Wir leben wie fast alle Vermittler und Buchungsplattformen von Provisionen, welche sich prozentual an den Umsätzen der vermittelten Veranstaltungen orientieren“, teilt Bergerhausen auf seiner Homepage mit. Wenn alle Veranstaltungen ausfallen, brechen die Einnahmen weg. „Hinzu kommt die Tatsache, dass unsere Hotel- und Location-Partner durch die Coronakrise selbst in Existenznot geraten sind. Die Not der Leistungsträger ist offensichtlich so groß, dass sie unsere offenen Forderungen gar nicht mehr oder nur noch stark verspätet begleichen können.“ Nun hofft der Unternehmer, dass seine technischen Lösungen im Insolvenzverfahren am Markt bestehen bleiben – denn die Existenzen vieler Distributionspartner hingen davon ab.

„Die von der Bundesregierung versprochenen Hilfsmaßnahmen sind bei uns bisher nur teilweise in Form von Steuer-Stundungen und einer kleinen Soforthilfe angekommen. Weitere erforderliche Rettungsmaßnahmen konnten leider bis dato nicht umgesetzt werden“, teilt Bergerhausen mit.

Einige Unternehmen beschäftigen sich mit Insolvenz

Der Großteil der Betriebe kämpfe derzeit um seine Zukunft, sagt Justus Olesch, Leiter der gemeinsamen Geschäftsstelle Norderstedt der IHK zu Lübeck und der Handelskammer Hamburg. „Es entstehen Ideen für neue Produkte, Vertriebswege und Kooperationen. Die Unternehmen packen an und wenden alle Kraft- sowie Finanzreserven für das Überdauern der Krise auf.“ Damit dies gelinge und den Betrieben nicht in den kommenden Wochen die Luft ausgehe, müsse nun das Geld aus den Hilfsprogrammen schnell fließen, fordert Olesch. „Aus meinen Gesprächen mit Unternehmen im Kreis Segeberg weiß ich, dass Unsicherheit über die künftige Geschäftsentwicklung besteht und sich einige Unternehmen mit dem Thema Insolvenz beschäftigen“, sagt Olesch. Da die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt ist, haben die Unternehmen aber auch mehr Raum für die Sanierung.

Kurzarbeitergeld, Steuerstundungen, Zuschüsse über die Corona-Soforthilfe und erweiterte Kreditlinien der Banken – die meisten Handwerker setzen darauf und hoffen, so über die Runden zu kommen. „Von vermehrten Firmenpleiten ist uns bisher noch nichts bekannt. Allerdings verzeichnen wir eine starke Nachfrage nach Informationen zu den staatlichen Hilfen“, sagt Michael Saß, wirtschaftspolitischer Referent der Kammer. „Wir sind recht zufrieden damit, wie die Hilfe organisiert ist.“ Die Unternehmer nutzen auch die Unterstützung von der Investitionsbank. 50.000 Anträge seien bisher eingegangen. Vor allem die Friseure melden sich bei Saß und seinen Kollegen. 2000 Salons sind im Kammerbezirk gelistet, jeder vierte habe sich schon gemeldet. Bei den Bauhandwerkern komme es zu Stornierungen. Kunden wollten den Einbau einer neuen Heizanlage oder eines neuen Daches lieber verschieben, weil sie sich um ihre finanzielle Zukunft sorgten.

Schuldenberater erwartet viele Privatinsolvenzen

Wer in der Coronakrise nur noch Kurzarbeitergeld bezieht oder arbeitslos wird, der kann nämlich schnell in die Privatinsolvenz rutschen, wenn er in den vergangenen Jahren ohnehin schon Spitz auf Knopf gehaushaltet hat. „Momentan ist es bei uns noch ruhig. Aber ich denke, da kommt ein Tsunami auf uns zu“, sagt Horst Wördehoff. Er leitet die Schuldnerberatungsstelle der Arbeitwohlfahrt in Norderstedt. Zu ihm kommen die Norderstedter, wenn aufgrund von Mietrückständen die Wohnungslosigkeit droht, wenn das Konto hoffnungslos überzogen ist, die Zwangsvollstreckung angekündigt oder Gläubiger Lohn- oder Kontopfändungen erwirken. Momentan kann Wördehoff wegen der Kontaktbeschränkungen keine persönlichen Beratungen anbieten. „Viele schieben die Beratung derzeit auch einfach auf. Aber alle, die es bislang finanziell gerade so hinbekommen haben, die rutschen bei 67 Prozent Kurzarbeitergeld in die Schuldenfalle – da können Autokredite, die Miete oder sonstige Verpflichtungen nicht mehr bezahlt werden.“ Gerade habe er einen arbeitslos gewordenen Busfahrer beraten, der seine hohe Miete nicht mehr bezahlen kann. „Aber es rufen auch vermehrt Selbstständige an. Die fragen nach der KfW und staatlichen Hilfen. Da verschiebt sich gerade unsere Kundenstruktur“, sagt Wördehoff.