Norderstedt. Es gibt kaum Ereignisse und Familiengeschichten in der Stadt, zu denen Gerd-Willi und Heino Meincke nicht eine Anekdote einfallen würde.

Sie sind das wandelnde Gedächtnis von Norderstedt. Schon seit Jahrzehnten und von Berufs wegen haben sie Geschichte in ihrer Heimatstadt ge- und beschrieben: Gerd-Willi (75) und Heino (71) Meincke. Ihr Vater Carl-Heinz Meincke übernahm 1953 den „Heimatspiegel“, der damals noch „De Steertpogg“ hieß. Das war Norderstedts im Jahr 1949 gegründetes erstes Wochen- und Anzeigenblatt für amtliche Nachrichten nach dem Krieg. Heino Meincke führte die Zeitung von 1986 bis zum Verkauf im Jahr 2011 als Verlagsleiter und einer von drei Gesellschaftern. Während sich sein Halbbruder Gerd, ein gelernter Buchdrucker, um die Akzidenzen und Volkshochschulbroschüren im gesamten Umland kümmerte.

Gerd-Willi lebt heute noch mit seiner Frau Antje in dem Elternhaus am Rathaus, das die Familie vor mehr als 70 Jahren gebaut und bezogen hat, als eines von 13 Siedlungshäusern im Norden von Garstedt. Heino wohnt schon lange in Hamburg, weil er dort das anonymere Leben bevorzugt.

Beide sind aber eine Institution, sozusagen Kopf und Herz, was die Heimatgeschichte dieser Stadt angeht, die seit 50 Jahren besteht. Keine Ereignisse und Familiengeschichten, zu denen ihnen nicht eine nette Anekdote einfallen würde. Schon die eigene Familiengeschichte ist aufregend. Gerd-Willi wird im letzten Kriegsjahr im heutigen Slawno (deutsch Schlawe) bei Danzig geboren. Der Vater fällt an der sich auflösenden Ostfront. Mutter Gerda flüchtet mit dem Baby in den Westen und landet in Hamburg, wo sie ihren zweiten Mann Carl-Heinz Meincke kennenlernt, der eine Tochter in die Ehe mitbringt. Sie bauen eines der ersten Siedlungshäuser in Garstedt am Heidberg 114 und halten dort wie viele Leute damals Schweine, Hühner und Gänse zur Selbstversorgung.

Das Haus wird mehrmals umgebaut und erweitert. Auch die Adresse ändert sich, während die Meinckes darin wohnen bleiben. Gerade hätte er alles renoviert gehabt und auch drei neue Adressschilder anfertigen lassen, als die Stadt plötzlich die inzwischen Heidbergstraße lautende Adresse erneut in den Alten Heidberg umänderte und nun auch eine neue Hausnummer vergab, ärgert sich Gerd-Willi Meincke noch heute. „Die Löcher in der Wand für die falsche Hausnummer sind immer noch zu sehen“, sagt er und muss schmunzeln.

Hier, im heutigen Stadtzentrum, stand damals bis auf das Dutzend Siedlungshäuser gar nichts, erzählt Meincke. Das Rathaus wurde erst 1983 gebaut. „Wenn man im Dachgeschoss aus dem Fenster schaute, konnte man bis zum Wald hinter der heutigen Autobahn sehen.“ Der Oma mütterlicherseits, die aus der DDR in Brandenburg übersiedelte, kam Garstedt damals wie ein richtiges Kaff vor. „In was für eine Kuhbläke seid ihr hier bloß hingezogen“, schimpfte sie mit ihrer Tochter Gerda über das Kuhdorf, in dem sie nun leben sollte, erinnert sich ihr ältester Sohn an den Wortlaut.

Wer zu Besuch kam, musste an der Haltestelle Harkseichen-Falkenberg der Alster-Nordbahn, wie die AKN da noch hieß, aussteigen. In Heidberg war er schon zwei Stationen zu weit gefahren. No-Mi gab es noch nicht.

Der Vater, der tagsüber im Krankenhaus Ochsenzoll arbeitete, verkaufte sein Horex-Motorrad, um die Wochenzeitung zu übernehmen, die der Harksheider Bürgermeister Carl Lange 1949 als Amtsblatt herausgebracht hatte. Am 1. Juni 1949 erschien die erste Ausgabe des „Harksheider Nahrichten-Blatts", das die Leser dann in „De Steertpogg“ umtauften. Es ist eine Hommage an die früheren Torfbauern, die ihre Torfballen vom Ohmoor, Glasmoor oder Wittmoor auf dem Hamburger Großmarkt anboten. Weil ihre Karren dabei ähnlich hin und her wackelten wie eine Kaulquappe, wurden sie Steertpogg, plattdeutsch für Schwanzfisch genannt.

1955 benannte Meincke das Anzeigenblatt schließlich in „Heimatspiegel“ um, um auch überregionale Anzeigenkunden zu gewinnen. Seine Frau Gerda würdigte er mit den neuesten Kinofilm-Empfehlungen, die er als „Flimmer-Gerda“ den Lesern anpries. Geschrieben wurden die Texte anfangs auf Schreibmaschinen im Keller des Wohnhauses der Familie. Sehr zum Leidwesen von Gerd-Willi, der wegen des Krachs neben seinem Schlafzimmer oft „wahnsinnig“ wurde, wie er sagt, weil er kein Auge zumachen konnte.

1955 tauchte dann erstmals der Name „Norderstedt“ in der Öffentlichkeit auf, erinnern sich die Brüder. Der Ingenieur Heinrich Lönnies aus Harksheide hatte die Förderungsgesellschaft Norderstedt gegründet, deren Ziel es damals war, eine Trabantenstadt im Norden Hamburgs zu gründen, die von Garstedt über Quickborn, Tangstedt und Ellerau bis Henstedt und Ulzburg reichen sollte und so auf einen Schlag drittgrößte Stadt Schleswig-Holsteins geworden wäre.

1967 gründeten Kaufleute den Arbeitskreis Norderstedt, der bis 1971 aus Garstedt, Harksheide, Glashütte und Friedrichsgabe eine Stadt mit 50.000 Einwohnern machen wollte. Das Land unterstützte die Pläne, doch die Kommunalpolitiker waren sich lange nicht grün. Wenn sich die Bürgermeister trafen und die Ulzburger Straße als Grenze überquerten, schauten sie immer grimmig auf die andere Seite hinüber und „schenkten sich Kakteen zur Begrüßung“, erinnert sich Gerd-Willi Meincke.

Die Gemeindevertreter in Harksheide und Glashütte, die beide zu Stormarn gehörten, beschlossen, lieber die Großgemeinde Tarpenau zu gründen. Fried­richsgabe, das wie Garstedt zum Kreis Pinneberg gehörte, plädierte noch 1968 für die Selbstständigkeit der Gemeinde. Doch Ende 1968 entschied das Innenministerium überraschend, die vier Gemeinden als Stadt dem Kreis Segeberg zuzuschlagen, um diesen, so die offizielle Begründung, zu stärken. Möglicherweise ging es aber auch darum, den Einfluss der SPD kleinzuhalten, was der CDU-Landesregierung eher im schwarzen Kreis Segeberg zu gelingen schien.

Die SPD-Gemeindevertreter der vier Gemeinden forderten noch Anfang 1969 vergeblich, die geplante Stadt lieber „Holstein“ und nicht „Norderstedt“ zu nennen. Im März 1969 beschloss der Landtag in Kiel dann aber gegen die Stimmen der SPD die Gründung von Norderstedt zum 1. Januar 1970.

Dies alles ist nachzulesen in der Chronik des „Heimatspiegels“, der in seiner Hochzeit eine Auflage von 16.000 Exemplaren erreichte und 55 Mitarbeiter beschäftigte. Texte und Anzeigen entstanden in der Geschäftsstelle an der Ulzburger Straße, gedruckt wurde erst in Hamburg, Bergedorf und Fadens Tannen, bis 1972 die Druckerei am Rugenbarg eingeweiht wurde, die 1982 dort nebenan neu gebaut wurde.

Kooperationen mit Anzeigenblättern in der ganzen Region entstanden und gingen verloren. In den 1990ern wurde das Kaufblatt, das lange für 60 Pfennig im Monat überwiegend über den Einzelhandel vertrieben wurde, auch wegen der stärker werdenden Konkurrenz durch das Abendblatt in ein kostenlos erhältliches Anzeigenblatt umgewandelt. Heino Meincke zog sich dann aus gesundheitlichen Gründen zunehmend aus dem täglichen Geschäft zurück.

In der Stadt war er damals bekannt wie ein bunter Hund. „Wenn ich mittags zum Essen ins Herold-Center ging, dauerte es ein, zwei Stunden, bis ich wieder zurück war, weil mich ständig Leute auf der Straße ansprachen“, erinnert er sich. Dabei musste er sich der zunehmenden Konkurrenz anderer Anzeigenblätter erwehren, weshalb der „Heimatspiegel“ jetzt auch am Wochenende erschien.

Sein Bruder Gerd-Willi verschrieb sich mehr und mehr der Norderstedter Stadthistorie und setzte den früheren Bürgermeistern der Gründungsgemeinden Gedenksteine als Denkmäler. Diese lösten oft hitzige Diskussionen mit ortsfremden Norderstedtern aus, erzählt er. Wenn die den Gedenkstein von Friedrich Lange am Norderstedter Rathaus entdeckten, schüttelten sie oft den Kopf und zweifelten den Vornamen an. Der müsse doch Carl heißen. Nein, nein, das war der Bürgermeister nebenan in Harksheide, verbessere er sie dann, sagt Meincke, der sich als Kind selbst darüber wunderte, warum der „Onkel Lange“, den sein Vater besuchte, einmal so und dann wieder anders aussah. Kurz darauf stritten die Leute schon wieder über den Eintrag Garstedt, der nicht stimmen könnte. „Wir sind doch hier in Friedrichsgabe“, dachten viele, wenn sie am Alten Heidberg standen, was aber völlig falsch sei, lacht der Ortskundige.

Wer soll bloß den Überblick behalten , wenn die beiden Meinckes einmal nicht mehr sind?