Norderstedt. Viele Nachbarn wollen in Corona-Zeiten für ältere Menschen in ihrem Umfeld da sein – doch viele lehnen dankend ab.

Nachbarn helfen Nachbarn – das ist gerade jetzt in Zeiten der Coronakrise besonders wichtig. Menschen aus Risikogruppen mit Essen versorgen. Den Einkauf für Ältere erledigen. Medikamente für sie aus der Apotheke holen. Beispiele gibt es viele. Die Zahl der Menschen, die ihren Nachbarn helfen wollen, um sie vor einer Coronainfektion zu schützen, wächst.

Nachbarschaftshilfen gibt es genügend. Über das Bürgertelefon der Stadt Norderstedt (täglich von 8 bis 18 Uhr unter 040/53 59 56 58) können sich Helfer und Hilfesuchende melden. Das Deutsche Rote Kreuz Norderstedt liefert Einkäufe mit Freiwilligen-Teams, das Norderstedter Nachbarschaftsnetzwerk bietet Unterstützung und Telefonketten für Einsame an. Und Nachbarn vernetzen sich im Internet privat über Portale wie Nextdoor-Alsterquelle für den Raum Norderstedt und Henstedt-Ulzburg.

Aber wollen sich die Menschen aus sogenannten Risikogruppen überhaupt helfen lassen? Die Rückmeldung von allen Helfern lautet: Es gibt derzeit mehr registrierte Helfer als Hilfesuchende – was nicht bedeutet, dass es letztere nicht gibt. Offenbar scheuen viele ältere Menschen, die Hilfe anzunehmen.

Im Supermarkt stehen viele Senioren an der Kasse

Beim Netzwerk Alsterquelle zeigt sich ebenfalls ein starkes Ungleichgewicht. Vielfältige Hilfsangebote – und kaum Nachfrage. ,,Es ist eine hohe Hilfsbereitschaft da“, sagt Peter-Alexander Möller, der die Nachbarschaftshilfe Alsterquelle im Oktober vorigen Jahres gegründet hat. Mittlerweile haben sich schon 222 Nachbarn aus der Region auf Alsterquelle registrierten lassen. Nimmt man die angrenzenden Nextdoor-Nachbarschaften im Raum Quickborn-Heide hinzu, sind es aktuell insgesamt 450 Mitglieder. Aber die, die sich helfen lassen wollen, sollen sich auch melden, sagt Möller. ,,Lasst euch helfen! Registriert euch in dem Portal. Es ist kostenlos. Eure Nachbarn helfen euch gern!“

Eine von denen, die gern helfen wollen, ist Cornelia Pemöller, Unternehmensberaterin aus Henstedt-Ulzburg. ,,Ich sehe auf Alsterquelle nur Angebote, keine Hilfsbedürftigen“, sagt die Mutter einer neun Jahre alten Tochter. ,,Ich dachte mir, aha, die älteren Menschen sind wohl nicht online. Also ging ich los und habe die Nachbarn persönlich angesprochen, um ihnen meine Hilfe anzubieten.“ Die Antwort, die sie zu hören bekam, lautete ,,Nein, nein, wir brauchen nichts.“

Beim Blick aus dem Fenster habe sie kurz darauf zufällig beobachtet, wie ihr 80 Jahre alter Nachbar aus seinem SUV steigt und seinen Einkauf aus dem Supermarkt ins Haus schleppt. Auf der Suche nach Toilettenpapier sei sie in vier Geschäften ,,von Silberrücken umringt“ gewesen. ,,Natürlich wollen die Menschen auch mal raus. Und sie wollen niemandem zur Last fallen“, sagt Cornelia Pemöller. ,,Aber vielen ist anscheinend gar nicht bewusst, dass sie selbst zur Risikogruppe gehören und welch einem hohen und vor allem unnötigen Risiko sie sich bei einem Einkauf aussetzen.“

Selbstständigkeit ist für viele Senioren wichtig

Der Norderstedter Psychotherapeut Michael Zorawski erklärt das Phänomen aus psychologischer Sicht. Ob sich ältere Menschen derzeit tatsächlich nur wenig helfen lassen, vermag er nicht zu beurteilen. ,,Da sollte man jetzt nicht eine ganze Gruppe von Menschen über einen Kamm scheren.“

Wenn sich jemand nicht so gern helfen lassen möchte, könne das vor allem daran liegen, dass ihm oder ihr die eigene Autonomie und Selbstständigkeit sehr wichtig sei, so der Psychotherapeut. ,,Dinge noch zu können, hilft dabei, ein positives Selbstbild zu erhalten oder negative Gefühle zu regulieren. Ein Verlust von Autonomie kann zu Angst oder Scham führen“, sagt Zorawski.

Hinzu komme, dass ältere Menschen oftmals nicht so gut über die aktuelle Situation informiert oder aufgeklärt sein mögen. ,,Schließlich sind sie weniger medial vernetzt, haben in der Regel eine geringe Internetaffinität und auch generell zumeist weniger Möglichkeiten, sich auszutauschen.“ Zorawski kennt allerdings auch ältere Menschen, die sehr vernünftig mit der Situation umgehen, aber die weniger auffallen dürften“, betont der Therapeut.

Sein Rat an ältere Menschen: ,,Nehmen Sie die Situation ernst, nehmen Sie den Rat Ihrer Kinder und Enkel an und versuchen Sie, sich nicht bevormundet zu fühlen. Es ist okay und klug, Hilfe anzunehmen. Dafür braucht sich niemand zu schämen. Wahrscheinlich haben Sie doch selbst ihr ganzes Leben lang schon anderen Menschen geholfen. Jetzt ist es an der Zeit, sich auch mal helfen zu lassen.“

Den Jüngeren rät Psychotherapeut Zorawski: ,,Sprechen Sie weiterhin mit den Älteren und ermutigen Sie sie, Hilfe anzunehmen und Regeln einzuhalten. Aber bleiben Sie auch geduldig, seien Sie nicht gleich beleidigt oder empört und führen Sie sich vor Augen, dass das alles aus oben genannten Gründen emotional wirklich nicht einfach sein mag für die älteren Menschen. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Generationenkonflikt.“

Die Nachbarschaftshilfe Alsterquelle ist über nextdoor.de zu erreichen.

Die Leser des Hamburger Abendblattes können sich über den Einladungscode GSTYWP direkt im Netzwerk einwählen. Zur Registrierung sind Name und Adresse nötig. Eine interaktive Karte und eine Telefonhotline befinden sich im Aufbau.