Norderstedt. Zahl der Beschwerden hat sich gegenüber 2018 verdoppelt und liegt über dem höchsten Wert unter den Hamburger Stadtteilen.
Die Zahl der Beschwerden über Fluglärm aus Norderstedt ist geradezu explodiert. Mehr als 66.000-mal haben sich Norderstedter im Vorjahr bei der Umweltbehörde in Hamburg über den Krach von Flugzeugen beschwert, fühlten sich im Schlaf gestört oder beklagten die Dauerbeschallung. Damit hat sich die Zahl innerhalb eines Jahres verdoppelt: 2018 gingen gut 33.000 Beschwerden ein, im Jahr 2017 waren es nur 7700. Das veranschaulicht, was vor allem die Norderstedter Interessengemeinschaft für Fluglärmschutz (NIG) und die Wählergemeinschaft Wir in Norderstedt (WiN) immer wieder beklagen: Der Fluglärm belastet die Norderstedter.
Allerdings machten mehr als 65.000 Betroffene ihrem Arger über den Lärm anonym Luft. Der Wohnort ist eine Pflichtangabe im Beschwerdeformular, alle anderen Angaben wie der Name sind freiwillig (www.hamburg.de/fluglaermbeschwerde). Die Norderstedter nutzten die Möglichkeit, der Behörde ihre Lärmbelastung mitzuteilen, so oft wie keine andere Stadt oder Gemeinde im Umland. Selbst in Hamburg findet sich kein Stadtteil, aus dem mehr Beschwerden verschickt wurden.
„Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass diese Form der Beschwerden vermutlich zumeist unter Zuhilfenahme softwaregestützter digitalisierter Automatisierungsprozesse abgesandt wird“, sagt Jan Dube, Sprecher der Umweltbehörde in Hamburg. Auch in der Gesamtbilanz der Fluglärmbeschwerden dominieren die namenlosen Beschwerden, 258.000 Hinweise auf störenden Fluglärm nahmen die Mitarbeiter der Behörde im Vorjahr an, 187.000 aus Hamburg, den Rest fast ausschließlich aus Norderstedt.
530 Beschwerden gab es aus Henstedt-Ulzburg
„Dass die Menschen keine Lust mehr haben, die Formulare komplett auszufüllen, wundert mich nicht. Wer immer wieder Zeit und Kraft darauf verwendet, ist irgendwann frustriert, weil er oder sie merkt, dass sich ja doch nichts ändert“, sagt Reimer Rathje, Fraktionschef der WiN, die sich als ausgeprägten Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit den Kampf um mehr Ruhe über Norderstedt auserkoren hat. Laut Statistik hat sich die Zahl der namentlich erfassten Beschwerdeführer fast halbiert von 104 und 103 in den Jahren 2017 und 2018 auf 66 im vergangenen Jahr. Die meldeten 1110-mal störenden Fluglärm, sechs Henstedt-Ulzburger formulierten 530 Beschwerden.
Wer sich beschwert, bekomme immer wieder die gleiche lakonische Antwort: Sie wissen ja, dass die Flüge hauptsächlich über die Norderstedter Bahn abgewickelt werden sollen. Zwar argumentierten die Flughafen-Verantwortlichen immer wieder damit, dass die Flugzeuge gegen den Wind starten sollen, der nun mal vorwiegend aus Westen oder Nordwesten blase, aber: „Egal wie der Wind weht, wenn irgend möglich, wird immer über Norderstedt hinweg gestartet. Das hat mir ein Pilot berichtet, der regelmäßig von Fuhlsbüttel aus abhebt“, sagt Rathje.
„Ich beschwere mich schon lange nicht mehr, es bringt einfach nichts. Dennoch will ich niemanden davon abhalten“, sagt Hans-Joachim Hartmann, Vorsitzender der NIG. Wie Rathje hält er andere Weg und Mittel für wirkungsvoller. „Durch politischen Druck und intensive Öffentlichkeitsarbeit lässt sich eher etwas erreichen, um die Betroffenen vom Fluglärm zu entlasten“, sagt der NIG-Chef. Dazu sei ein langer Atem nötig.
Immerhin zeigten die Initiativen der Fluglärmgegner, die sich unter dem Dach der BAW, Bürgerinitiative für Fluglärmschutz in Hamburg und Schleswig-Holstein, zusammengeschlossen haben und mit dem BUND zusammenarbeiteten, erste Erfolge. „Bei den verspäteten Nachtflügen sind wir einen großen Schritt vorangekommen. Wir hatten 2019 am Flughafen 42 Prozent weniger Verspätungen nach 23 Uhr als im Vorjahr“, sagte Umweltsenator Jens Kerstan. Die Zahl sank vom Negativrekord 2018 mit fast 1200 Flügen auf 678 im vergangenen Jahr.
Ordnungswidrigkeitsverfahren, Bearbeitungsgebühren und viele Gespräche hätten zum deutlichen Rückgang der Spätflüge geführt. Der 21-Punkte-Plan der Bürgerschaft, um den Fluglärm nach 23 Uhr zu reduzieren, zeige ebenfalls Wirkung. „Der Trend stimmt, er soll sich aber weiter fortsetzen: Die Zahl der Verspätungen muss noch weiter sinken“, sagte Kerstan.
Rathje und Hartmann sehen die Zahlen skeptisch: „In den Wintermonaten, wenn die Menschen sich drinnen aufhalten, starten und landen die Maschinen eher mal über Hamburg hinweg. Sobald die Sonne die Menschen aber auf Terrassen und Balkone lockt, verlagert sich der Flugverkehr wieder auf die Norderstedter Bahn“, sagt Rathje.
Er verweist auf die vom Flughafen veröffentlichten Zahlen: Danach starten von April bis einschließlich August monatlich mehr als 4000 Flugzuge über das nördliche Umland hinweg, im Mai und Juli mehr als 5500. Im Rest des Jahres liegt die Zahl niedriger. „Wenn man dann auf der Terrasse sitzt und alle zwei Minuten eine Maschine über einen hinwegdonnert, ist das schon sehr belastend“, sagt Rathje.
Hartmann begrüßt es zwar, dass Norderstedts Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder den Vorsitz in der Fluglärmschutzkommission übernommen hat, sieht allerdings wenig Grund zu Optimismus: „Die Zwänge beispielsweise durch die Bahnbenutzungsregeln sind so stark, dass sie wahrscheinlich keine wesentlichen Veränderungen zugunsten Norderstedts durchsetzen kann.“