Bad Segeberg. Viele Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben.

Jedes Jahr kommen mehr als 380.000 Besucher nach Bad Segeberg, um die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand zu erleben: Das Freilichttheater am Segeberger Kalkberg ist längst zu einem Publikumsmagneten geworden. Aber das liegt nicht nur an den Karl-May-Festspielen, sondern auch an den vielen Rock- und Schlagerstars, die vor der Karl-May-Saison im Mai auftreten. Doch kaum ein Besucher weiß vermutlich, dass hier kurz nach dem Krieg der bekannteste deutsche Boxer im Ring gestanden hat. Und dass der Reichspropagandaminister die Arena einst einweihte, möchten viele Segeberger lieber vergessen.

Der 91 Meter hohe Kalkberg ist in der Kreisstadt allgegenwärtig. Die über befestigte Wege erreichbare Gipfelplattform gehört zu den beliebtesten Aussichtspunkten. Der Blick reicht rundum, bei guter Sicht bis zu den Kirchtürmen Lübecks. Eine Treppe führt vom Gipfelweg aus zum Rand des noch rund 43 Meter tiefen Brunnenschachtes der ehemaligen Siegesburg. Das Freilichttheater gehört seit 1937 zum Kalkberg. Der Segeberger Journalist, Fotograf und Autor Hans-Peter Sparr kennt die Geschichte dieses Theaters ganz genau: Er hat sie erforscht, hat in Archiven gewühlt und dabei Erstaunliches zutage gefördert. Sein Buch „Der Kalkberg, Naturdenkmal und Wahrzeichen der Stadt Bad Segeberg“ gibt einen Einblick in die wechselhafte Geschichte dieser Kulturstätte.

Die Nationalsozialisten hatten den Kalksteinbruch einst als „Thingplatz“ auserkoren. Thingspiele sollten den Einzelnen hauptsächlich ein emotionales und ethisches Aufgehen in Heimat- und Volksgemeinschaft erleben lassen. Über 400 waren in Deutschland geplant, aber nur 60 wurden tatsächlich gebaut, und heute sind nur noch wenige in Betrieb. Neben dem Segeberger Freilichttheater sind es zum Beispiel noch die Berliner Waldbühne und das Freilichttheater an der Loreley bei St. Goarshausen in Rheinland-Pfalz. „Kein anderes Freilichttheater in Europa ist bis heute so kontinuierlich genutzt worden“, sagt Hans-Peter Sparr, „das liegt natürlich vor allem an den Karl-May-Spielen.“

20.000 Segeberger und Zugereiste begrüßen Goebbels

Die Geschichte der Open-Air-Arena begann vor über 80 Jahren mit einem spektakulären Bauprojekt, das von Berlin aus gelenkt wurde. Männer des Arbeitsdienstes, viele von ihnen aus Hamburg, gingen ans Werk – zunächst als Freiwillige, ab 1935 als Pflichtarbeiter des Reichsarbeitsdienstes. Zwischen 1934 und 1937 wurden auf dem Gelände 15.000 Kubikmeter Boden bewegt und 3000 Kubikmeter Kalkstein weggesprengt sowie 1200 Tonnen Granit aus Schlesien für den Bau der Treppenstufen angefahren und verbaut. Auf 125.248,99 Reichsmark lautete die Schlussrechnung – der Berliner Regierungsbaumeister Fritz Schaller hatte ursprünglich 20.000 Reichsmark für das ehrgeizige Projekt veranschlagt.

66. Oktober 1945: Hein ten Hoff (l.) kämpft gegen Hans Kupsch in der Kalkbergarena.
66. Oktober 1945: Hein ten Hoff (l.) kämpft gegen Hans Kupsch in der Kalkbergarena. © Archiv Sparr | Archiv Sparr

Am 10. Oktober 1937 dann der große Tag für Bad Segeberg, den die Segeberger heute lieber aus der Stadtgeschichte streichen würden: Reichspropagandaminister Joseph Goebbels reist an, um die „Nordmark-Feierstätte“ zu eröffnen. 20.000 Segeberger und Zugereiste begrüßen ihn mit tosenden Heilrufen. „Die 20.000 erheben sich wie ein Mann und grüßen Dr. Goebbels, den Schildträger der Kultur des neuen Deutschlands mit einem Begeisterungssturm ohne gleichen“, schreibt ein Chronist.

Goebbels‘ Worte sind markig: „Diese Stätte soll eine politische Kirche sein, in der für Jahrzehnte und Jahrhunderte die Menschen zu wahren Nationalsozialisten erzogen werden.“ In Wirklichkeit dachte der Propagandaminister nüchterner über seinen Segeberg-Besuch: „Die Feierstätte ist ganz passabel. Kein Kunstwerk, aber immerhin erträglich“, schreibt er später in sein Tagebuch. Nach dem Krieg wurde das Kalkbergstadion für verschiedenste Veranstaltungen genutzt. Bereits im Oktober 1945 fanden die ersten Box-Freilichtveranstaltungen statt. Am 6. Oktober bestritt Hein ten Hoff gegen Hans Kupsch seinen zweiten Profikampf und wurde Sieger durch k.o. in der zweiten Runde. Denkwürdig ist jener Tag vor allem durch den Ringrichter: Max Schmeling, der damals wegen seiner angeblichen Nähe zu den Nazis noch Boxverbot hatte, war nach Bad Segeberg gekommen und fungierte als Ringrichter.

Max Schmeling landete für eine Nacht im Gefängnis

Hans-Peter Sparr: „Es ist heute schwer zu sagen, wer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog: Max Schmeling oder der spätere Schwergewichts-Europameister ten Hoff.“ Für Schmeling hatte der Auftritt ein unangenehmes Nachspiel: Er landete für eine Nacht im Polizeigefängnis, weil er im Freilichttheater als Ringrichter aufgetreten war. 1984 kehrte Max Schmeling übrigens noch einmal an den Kalkberg zurück: „Er wurde zum Ehrenhäuptling der Karl-May-Spiele ernannt“, sagt Hans-Peter Sparr.

Die Open-Air-Saison am Kalkberg beginnt am ersten Mai-Wochenende und endet am ersten Wochenende im September. Zunächst gibt es Rock- und Schlagerkonzerte, dann folgen die Karl-May-Spiele. Seit 1987 ist die Zuschauerzahl streng reglementiert – 10.000 Besucher sind zugelassen. Früher durften bis zu 15.000 Menschen kommen, aber das änderte sich nach einem Konzert der amerikanischen Beach Boys: Das Stadion war überfüllt, Zuschauer blockierten die Aufgänge, die Sicherheit war gefährdet. Rettungskräfte hätten sich im Ernstfall keinen Weg bahnen können. Danach wurden die behördlichen Auflagen strenger.

Nach Ende der Karl-May-Spiele wird der Schwerpunkt auf den Fledermausschutz gelegt. Der letzte Versuch, nach der Indianer-Saison einen musikalischen Volltreffer zu landen, scheiterte im Jahre 2001: Ein Konzertveranstalter wollte Jennifer Lopez auftreten lassen – abgelehnt: Die Fledermäuse, die um diese Zeit beginnen, die Kalkberghöhlen als Winterquartier aufzusuchen, haben Vorrang.

So geht’s zur Kalkberg-Arena: Der Eingang der Open-Air-Arena liegt am Karl-May-Platz in Bad Segeberg. Die Aussichtsplattform ist über eine Treppe am Kalkberg zu erreichen.