Kreis Segeberg. Serie – Viele kleine und große Ereignisse sind im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben.

Aufgeräumt sieht es hier nicht aus: Überall liegen von Moos und Pilzen überwucherte Baumstümpfe. Abgestorbene, zum Teil abgebrochene Bäume ragen in den Himmel, dazwischen stehen junge Buchen, die sich selbst ausgesät haben, aber auch 250 bis 300 Jahre alte Baumriesen. Was wie ein verwunschener Wald aussieht, ist für die schleswig-holsteinische Forstwirtschaft ein Experiment, dessen Ergebnis erst nach Jahrzehnten feststeht. Mitten im Segeberger Forst, zwischen Wahlstedt und Heidmühlen, gibt es einen richtigen Urwald, den „Naturwald Buchholz“, der von den Menschen unangetastet bleibt.

Revierförster Matthias Sandrock betrachtet das Chaos liebevoll: „Maßstäbe für Zeit und Ordnung gelten hier nicht“, sagt der erfahrene Forstbeamte. „Was wir hier sehen, ist ein dynamischer Prozess von Werden, Wachsen und Vergehen.“ Aus diesem Naturwald hat sich der wirtschaftlich denkende Mensch zurückgezogen und greift nicht mehr lenkend ein. Hier sollen die natürlichen Prozesse völlig ungestört ablaufen. Sein Vorgänger, der Forstamtsrat a. D. Lutz Gohle, von 1981 bis 2011 Revierförster im Segeberger Forst, hatte seit Mitte der 1980er-Jahre für den Erhalt der wunderschönen alten Buchen gekämpft und damit das Projekt Naturwald im Forst in Gang gesetzt.

Die Buchholzer Wildnis ist ein Generationenprojekt

Tropische Urwälder, Savannen oder etwas Ähnliches wie kanadische Weiten gibt es in Schleswig-Holstein natürlich nicht. Von Menschen nicht genutzte Landstriche sind nicht vorhanden, alles, was nutzbar war, wurde im Rahmen der Möglichkeiten genutzt – und das seit der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren. Matthias Sandrock begleitet den Naturwald schon etliche Jahre und beobachtet die fortschreitende Wildnis. Seine Amtszeit aber reicht nicht aus, um gründliche Erkenntnisse zu gewinnen. „Das ist ein Generationenprojekt“, sagt der Förster, dem die Buchholzer Wildnis sehr am Herzen liegt.

Insgesamt bleiben in diesem Teil des Segeberger Forstes 44 Hektar Wald unangetastet. Hier greift der Mensch nicht in den Kreislauf der Natur ein, der Wald kann also seine eigene Dynamik entwickeln. Unberührt von Menschenhand ist der Naturwald ein Paradies für Pflanzen und Tiere. Menschen haben Zutritt, aber in einem „unordentlichen Wald“ kann man natürlich nicht ordentlich spazieren gehen. Außerdem: Das Betreten des „Naturwaldes Buchholz“ im Bereich der Försterei „Glashütte“ wird zunehmend gefährlich, weil die Zerfallsphase bei alten Bäumen eingesetzt hat, das bedeutet, die noch stehenden Bäume und ihre Kronen können jederzeit brechen. Der Urwaldcharakter zeigt sich mit alten, zusammenbrechenden Bäumen auf ganzer Fläche. Der eingezäunte Bereich darf als wissenschaftliche Beobachtungsfläche nicht betreten werden.

„Sehen Sie dort!“ Förster Sandrock zeigt aus dem Fenster des Geländewagens, mit dem er „seinen“ Naturwald umkreist. „Diese Bäume sind gestürzt und bleiben natürlich liegen, wo sie sind.“ Die Zerfalls- und Verjüngungsphase kann an vielen Stellen gut beobachtet werden. Dieser Teil des Segeberger Forstes ist bestens geeignet für das generationsübergreifende Wildnis-Projekt: Mit einem Alter von bis zu 310 Jahren gehört er zu den ältesten Buchenwäldern in Schleswig-Holstein. Die hier stehenden Buchen sind zwischen 120 und 310 Jahre alt, es gibt aber auch jüngere Birken, Fichten und Lärchen. Bei den Buchen hat seit etwa 40 Jahren eine Zerfallsphase begonnen, sodass es im Naturwald sehr viel stehendes oder liegendes, auch hängendes Totholz gibt.

Im Forstbotanischen Merkbuch von 1906 über urwüchsige Sträucher, Bäume und Bestände im Königreich Preußen wird bereits darauf hingewiesen, dass zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Waldung der Segeberger Heide als „Urwolt“ bezeichnet wurde. Im Kerngebiet ist der Naturwald Buchholz aus einer Naturwaldparzelle hervorgegangen, die dort in den 1980er-Jahren als forstliche Beobachtungsfläche eingerichtet wurde. Sie hatte eine Größe von 7,6 Hektar, davon 1,9 Hektar Kernfläche mit Wildschutzzaun. Mitte der 1990er-Jahre wurden Naturwaldflächen einbezogen. Die Ausweisung des Naturwaldes mit heutigem Zuschnitt erfolgte 2001.

Die alten Buchenwälder kommen hier in allen Stadien vor – von der Aufbau- bis hin zur Zerfallsphase. Aber tote Bäume stecken voller Leben: Vor allem Pilze und Insekten sind sehr artenreich vertreten. „Bis zu 600 Insektenarten leben und ernähren sich in oder an einem absterbenden Stamm, der von ihnen langsam zersetzt wird“, sagt Sandrock. „Neben der weiteren Wuchsdynamik der Bäume unter Berücksichtigung des Klimawandels werden insbesondere die Entwicklung voreiszeitlicher Flechten und das Arteninventar von Höhlenbrütern, Fledermäusen, Pilzen und totholzgebundenen Insekten wissenschaftlich durch Universitäten und forstliche Forschungsanstalten begleitet.“

Im Wald leben Waldlaubsänger und Trauerschnäpper

Im April und Mai ist hier der Gesang der Misteldrossel typisch. Es sind auch Mittel-, Bunt- und Schwarzspechte, im Juni Waldlaubsänger und Trauerschnäpper anzutreffen. Die nationale Strategie zur biologischen Vielfalt ist auf weitere Ausweisungen von Wildnisgebieten ausgelegt. 2007 hat das Bundeskabinett als Ziel einen Anteil von zwei Prozent der Landesfläche Deutschlands als Wildnisgebiete – also Bereiche, die aus der menschlichen Nutzung fallen – formuliert. Dieses Ziel wird so schnell nicht zu erreichen sein: Das Bundesamt für Naturschutz schätzt den aktuellen Wildnisanteil im Jahre 2019 auf unter 0,5 Prozent, das sind 1.800 Quadratkilometer.

Der Naturwald Buchholz ist dabei nur ein „ganz kleiner Fisch“. Auf der deutschen Wildniskarte ist er nicht zu finden. Aber für Förster Matthias Sandrock ist die Bewahrung und Beobachtung von diesem Stückchen Wald inmitten des großen Segeberger Forstes eine sehr wichtige Aufgabe, die er mit dem Ablauf seiner Amtszeit gerne seinem Nachfolger überträgt.