Politiker aus dem Kreis Segeberg erinnern sich daran, wie sie den 9. November vor 30 Jahren erlebt haben.

Der Kreis Segeberg wurde vom Mauerfall komplett überrollt. Noch einen Tag danach gaben die Behörden die Parole aus: „Wir haben alles im Griff“. Doch am Wochenende stürmten die DDR-Bürger geradezu die Städte. In Norderstedt mussten sich Polizei und Stadt von Karstadt 50.000 Mark leihen, um das Begrüßungsgeld von 100 Euro für jeden Gast aus der DDR auszahlen zu können. Das Rathaus war geschlossen, da steuerten die Besucher das Polizeirevier an: „Sogar nachts kamen sie“, sagte der damalige Polizeichef Eberhard Geyer. Henstedt-Ulzburgs Bürgermeister Volker Dornqust hatte die Zahlstelle sogar kurzfristig in sein Wohnzimmer verlegt. Knapp 400 DDR-Bürger machten einen Ausflug nach Norderstedt, 135 ließen sich das Begrüßungsgeld in Hen­stedt-Ulzburg auszahlen.

Für das Wochenende darauf präparierten sich die Städte und Gemeinden für einen erneuten Ansturm. Der Landrat appellierte an die Bürger, Wohnungen und einzelne Räume zur Verfügung zu stellen, denn die DDR-Bürger wollten Hamburg entdecken und brauchten Zimmer für die Nacht. Eine Welle der Hilfsbereitschaft war die Folge: Hoteliers in Norderstedt und Kaltenkirchen entschlossen sich spontan, DDR-Besuchern kostenlos Zimmer und Frühstück zur Verfügung zu stellen. Die Norderstedter CDU und der Kinderschutzbund Kisdorf richteten einen Übernachtungsservice ein.

Doch das zweite Wochenende nach dem Mauerfall blieb ruhig. Allmählich wichen das geschichtsträchtige Ereignis und seine Folgen aus den Schlagzeilen. Der 30. Geburtstag des Mauerfalls ist natürlich auch für uns Anlass, zurückzublicken. Wir haben mit Menschen gesprochen, die aus ganz persönlicher Sicht berichten, wie sie die Tage rund um den 9. November 1989 erlebt haben.


Peter Kurt Würzbach (81)
vertrat den Wahlkreis Segeberg-Stormarn-Nord von 1976 bis 2002 als CDU-Abgeordneter im Bundestag, er war von 1982 bis 1988 parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Außerdem war er von 1970 bis 1995 Bürgermeister von Klein Rönnau: „Am 9. November 1989 war ich in Bonn. Ich erinnere mich noch, dass die Nationalhymne gespielt wurde. Am nächsten Tag wurde ich mit einem Militärflugzeug nach Berlin geflogen, wo der Pilot eine Runde über die Mauer drehte. Abends bin ich dann mit Alfred Dregger, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU im Bundestag, in das Restaurant Zur letzten Instanz in der Waisenstraße gegangen und habe dort mit Ostberlinern gefeiert. Mit einer Familie, die ich damals in dem Restaurant kennenlernte, habe ich übrigens heute noch Kontakt. Später bekam die Bundeswehr den Auftrag, die Mauer abzureißen und ich hatte die Chance, drei Mauerstücke zu kaufen. Ich ließ sie von einer Spedition nach Klein Rönnau, wo ich damals ehrenamtlicher Bürgermeister war, bringen und sie am Ortseingang aufstellen, was leider nicht allen Kommunalpolitikern im Ort gefiel. Sie mussten wieder entfernt werden. Heute stehen zwei dieser Mauerstücke vor Einkaufszentren in Kiel und Lübeck, das dritte bei mir im Garten. Das Verhalten der örtlichen Politiker tut mir heute noch weh. Ich zeige internationalen Besuchern das Teilstück aus der Berliner Mauer immer noch gerne.“

Anton Graf Schwerin von Krosigk (94) war von 1966 bis 1990 genau 8888 Tage Landrat des Kreises Segeberg: „Ich war an jenem Tag natürlich tief ergriffen, zumal meine Familie aus Sachsen-Anhalt stammt und unsere Güter von der DDR beschlagnahmt wurden. Was ich am 9. November 1989 speziell gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich war es ein ganz normaler Arbeitstag. Aber natürlich habe ich mich über das Fernsehen informiert und bin so auf dem Laufenden geblieben. So habe ich auch gesehen, dass viele Menschen aus der DDR unterwegs waren, das hat mich tief bewegt. Mit war immer klar, dass die Wiedervereinigung nur von der DDR ausgehen konnte. Und so war es ja auch, aber der Glaube hat mir daran immer gefehlt. Ich habe mir später unsere ehemaligen Güter in Mitteldeutschland angesehen, und inzwischen hat ein Vetter von mir die Ländereien Stück für Stück zurückgekauft. Inzwischen ist sein Besitz größer als unser altes Gut.“

Dieter Bracke (75) ist Stadtrat in Kaltenkirchen. Er flüchtete 1965 mit 21 Jahren im Harz alleine über die Grenze: „Für mich war der Fall der Berliner Mauer ein ganz besonderes Erlebnis, denn ich stamme ja aus der DDR. Wir wollten am 9. November gerade von Kaltenkirchen, wo ich seit 1986 nach einem vierjährigen Aufenthalt in den USA wieder lebte, in das Norderstedter Herold-Center aufbrechen. Wir haben die Nachricht gehört und sind dann vor dem Fernseher geblieben. Nebenbei waren wir etwas beunruhigt, weil unsere Tochter damals im Westberliner Interconti-Hotel gearbeitet hat. Wir wussten ja nicht, was dort in Berlin alles vor sich ging. Insgesamt aber war es ein Gefühl der Erleichterung. Den Heiligabend des Jahres 1989 haben meine Frau und ich dann zusammen mit unserer Tochter im denkmalsgeschützten Ostberliner Nikolaiviertel verbracht. Meinen Thüringer Heimatort Sömmerda habe ich übrigens zehn Jahre nach meiner Flucht wieder besuchen dürfen. Ich konnte damals einen Einreiseantrag stellen, was aufgrund der Ostpolitik von Willy Brandt wieder möglich war. Ich habe heute noch kleine Mauerstücke bei mir zu Hause. Manchmal verschenke ich sie mit dem dazugehörigen Zertifikat.“

Hanno Krause (55) ist Bürgermeister in Kaltenkirchen. Er stammt aus Warin, einer Kleinstadt in der Nähe von Wismar: „Ich war am 9. November 1989 in Rostock an der Uni, als ich die Nachricht hörte. Ich dachte, wie übrigens alle meine Kommilitonen, dass es sich um einen sehr schlechten Karnevalsscherz handelt. Am 11. November fuhren wir dann – es war tatsächlich fast 11 Uhr und 11 Minuten – mit dem Trabbi des Vaters meines Freundes zu viert über die Grenze Schlutup nach Lübeck. Es war ein grandioses Abenteuer mit unglaublichen Glücksgefühlen dank der Freiheit.“

Verena Jeske (40), Bürgermeisterin von Bad Bramstedt, ist in der DDR aufgewachsen: „Ich erinnere mich daran, dass seit Wochen eine gewisse Spannung in unserer Familie und in unserem Wohnort zu spüren war. Immer wieder wurde über Politik gesprochen. Als damals Zehnjährige saß ich am Abend des 9. November zusammen mit meinen Eltern vor unserem Raduga- Farbfernseher, ein russisches Fabrikat.

Mein Papa, ein LPG-Vorsitzender, hatte bereits vor Tagen prognostiziert, dass die Mauer fallen wird. Meine Mutter hat ihn immer wieder gemahnt, er solle so etwas nicht so laut sagen, denn wir wussten, dass wir, als einzige im Ort mit einem Telefon, beobachtet und auch abgehört wurden.

Mein Papa sollte Recht behalten. Die Meldungen im Fernseher überschlugen sich, und es wurde, obwohl ich am nächsten Tag zur Schule musste, ein langer Fernsehabend für uns drei. Es war eine merkwürdige Stimmung. Jetzt wird alles anders. Ob es besser wird, werden wir sehen. Das war ein Satz meines Papas, der mir von dem Abend in Erinnerung blieb.“