Norderstedt. Am Wochenende wird in Harksheide der 65. Geburtstag des Gotteshauses gefeiert. Die Glocken stammen aus Schlesien.
Je weiter der Weg im Turm nach oben führt, desto schmaler und steiler wird die Treppe. Staub und Spinnweben bedecken den Boden und die schmalen Fenster. Dachbalken zwingen alle Besucher, tief in die Knie zu gehen. Johannes Hischer will ganz nach oben zu den Glocken der Falkenbergkirche. Er nimmt die letzten Stufen, muss über eine Barriere klettern und aufpassen, dass er sich an dem tonnenschweren Geläut nicht den Kopf einschlägt und an Stahlseilen hängenbleibt. Vorsichtshalber hat der Küster zuvor alle Glocken auf Aus geschaltet. Hischer ist am Ziel. Kalter Wind zieht durch die Ritzen des Gebälks, das Licht ist schummerig. Aber der 69-Jährige ist glücklich.
Die mehr als 300 Jahre alten Glocken sind etwas Besonderes für Hischer. Sie sind nicht nur Teil der Kirche, sondern erzählen gleichzeitig die Geschichte seines Vaters. Hugo Hischer wurde in Berlin geboren und ist in Schlesien aufgewachsen. In einem kleinen Ort namens Geischen trat er 1939 seine erste Pfarrstelle als Pastor an. Drei Jahre später wurden zwei Kirchenglocken während des Zweiten Weltkrieges eingezogen. Sie sollten für Rüstungszwecke eingeschmolzen und zu Granaten verarbeitet werden. „Läutejunge Alfred Schönaich läutete 1942 ein letztes Mal die Glocken“, sagt Johannes Hischer.
Der Sohn des Pastors kennt die Details nicht nur aus persönlichen Erzählungen, sondern auch aus der Kirchenchronik, die sein Vater Hugo Hischer einst verfasst hatte. „Ich habe sie mir nach seinem Tod von meiner Mutter übersetzen lassen, mein Vater schrieb in Altdeutscher Schrift, die heute nicht mehr jeder lesen kann“, sagt Johannes Hischer. Der pensionierte Berufsschullehrer überlässt nichts dem Zufall. Für das Treffen mit dem Abendblatt hat er auf mehreren DIN-A4-Zetteln die Geschichte der Glocken chronologisch und mit genauen Jahreszahlangaben niedergeschrieben. Dazu hat er einige Bilder angeheftet. „Damit Sie auch das Richtige schreiben, habe ich ein bisschen recherchiert“, sagt er mit einem verschmitzten Grinsen.
Die Glocken aus Geischen landeten 1942 auf dem Glockenfriedhof der Norddeutschen Affinerie („Affi“) in Hamburg-Veddel. Hugo Hischer wurde als Soldat einberufen. Weitere drei Jahre vergingen, bis die Glocken auf eine Schute zur Weiterverarbeitung geladen wurden. Beim Transport wurde bei einem Bombenangriff das Schiff getroffen, es sank bis auf Grund. Doch das war nicht das Ende der Glocken. „Nach dem Krieg wurde die Schute gehoben, und die Kirchenglocken blieben wie durch ein Wunder unversehrt“, berichtet Hischer Junior.
Harksheide wird 1953 selbstständige Gemeinde
Schließlich kam Hugo Hischer 1950 nach Garstedt, wo er als zweiter Pastor arbeitete. „Ich vermute, dass mein Vater in einer Liste, in der zahlreiche alte Glocken vermerkt waren, seine wiederentdeckt hat“, meint Johannes Hischer. Der Pastor setzte alle Hebel in Bewegung, um seine Glocken aus der Heimat zurück zu sich zu holen. Wenig später lagerten sie im Keller der Kirche in Garstedt ein, ehe Harksheide 1953 zur selbstständigen Kirchengemeinde erklärt wurde und endlich mit dem Bau eines eigenen Gotteshauses begonnen werde konnte. Hischer wurde der erste Pastor der heutigen Falkenbergkirche.
Am 29. August 1954 wurden die Glocken auf einer Pferdekutsche, begleitet von einem feierlichen Festumzug, von Garstedt nach Harksheide gebracht. Alfred Schönaich, der 1942 ein letztes Mal in Geischen die Glocken läutete, reiste extra nach Harksheide, um sie nach zwölf Jahren erstmals wieder erklingen zu lassen. „Eine unglaubliche Geschichte“, sagt Johannes Hischer, der viele Jahre mit seinen Eltern in einem Haus neben der Falkenbergkirche wohnte, nun aber in Lokstedt lebt.
Sein Vater war bis Anfang der 70er-Jahre Pastor. 1985 verstarb er im Alter von 78 Jahren. „Wir hatten immer ein gutes Verhältnis“, sagt Hischer. In der Falkenbergkirche stellt er sich immer noch als „Sohn des ersten Pastors“ vor. Viele wissen hier sofort, von wem die Rede ist. Wenn Hischer an seinen Vater denkt, stellt er sich ihn in einem knöchellangen Ledermantel, Schlapphut und Schaftstiefeln vor, die er häufig trug. „Er hat immer gern mit Leuten geschnackt. Irgendwann kannten ihn alle.“
Falkenbergkirche feiert am Wochenende 65. Geburtstag
Vor zwei Jahren hat sich Johannes Hischer auf Spurensuche begeben und reiste erstmals in die alte Heimat seines Vaters. Geischen gehört heute zu Polen. „Als ich einen Blick in die Holzkirche geworfen habe, glaubte ich, in der Falkenbergkirche vor ihrem Umbau zu stehen“, sagt er. Die Aufteilung der Kirche sei dieselbe gewesen. „Die Bänke, der rote Läufer und der schmiedeeiserne Schmuck waren fast identisch. Erst da erkannte ich, wie sehr mein Vater von seiner schlesischen Heimat geprägt war.“
An diesem Wochenende feiert die Falkenbergkirche, die am 3. Oktober 1954 geweiht wurde, ihren 65. Geburtstag. Auch Johannes Hischer wird dabei sein. „Mir wird das sehr nahe gehen“, sagt er. Wenn er in dem Gotteshaus zu Gast ist, besucht er meistens auch seine Eltern, die auf dem anliegenden Friedhof begraben sind. Seine Mutter wurde 100 Jahre alt. Und wenn die Kirchenglocken beim Festgottesdienst erklingen, wird Johannes Hischer, so viel ist sicher, an seinen Vater denken.