TANGSTEDT. Sieghard Bußenius hat die Geschichte der jüdischen Ausbildungsstätte im Norderstedter Stadtteil akribisch erforscht.
Die jungen Juden, die sich von Mai 1934 bis April 1939 auf dem Brüderhof im heutigen Norderstedter Stadtteil Harksheide auf die Hachschara, auf ihre Auswanderung ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina vorbereiteten, kannten das Kerinnes-Haus nicht, wohl aber den Acker, auf dem es steht.
Am Mittwoch, 14. August, hält Sieghard Bußenius, der die Geschichte des Kibbuz’ Brüderhof akribisch erforscht hat, im Kerinnes-Haus den Vortrag „Der Brüderhof – eine jüdische Ausbildungsstätte 1934 bis 1939“.
Anuschka Thomas und Thorsten Fixemer, die 15 Jahre im Kerinnes-Haus wohnten, ist es zu danken, dass das Landesamt für Denkmalpflege das Holzhaus samt Garten-Parzelle seit August 2017 als „Sachgesamtheit Behelfsheim Tangstedt“ unter Denkmalschutz stellte. Mit dem Namen Kerinnes-Haus wird an Hildegard und Fritz Kerinnes erinnert, die während der Bombennächte aus Hamburg flüchteten und das Häuschen für 20 Mark von Heinrich Sielk pachteten, dessen Enkel Helmut Sielk auf dem Bauernhof nebenan lebt.
Bis zu 40 junge Juden im Alter von 15 bis 30 Jahren lebten zeitweilig auf dem Kibbuz-Hof. Hof-Pächter und Landwirt Heinrich Leuschner, seit 1937 NSDAP-Mitglied, unterrichtete die Jugendlichen in Landwirtschaft, Viehzucht und Hauswirtschaft. Batia Amorai verließ im April 1939 als eine der letzten Jüdinnen und Juden den Brüderhof. Damals hieß sie Berta Kern und war in einen Jungen namens Tim verliebt. Damals aber schrieben die Nazis die Nürnberger Rassengesetze fest. Die Reichspogromnacht war ein halbes Jahr her, und Berta Kern wusste, wenn sie ihre Heimat, in der sie als Deutsche geboren wurde, nicht sofort verlässt, droht der Tod.
Trotzdem sprach Batia Amorai im März 2008 in Jerusalem, als sie 78 Jahre alt war, über ihre Zeit auf dem Brüderhof nahezu ohne Groll: „Die Jungen arbeiteten auf dem Land, im Feld und im Moor, wir Mädchen im Haushalt.“ Im Juni 1938 wurde sie von ihren Eltern über die jüdische Organisation Hechaluz auf den Harksheider Hof geschickt. Sie hat ihre Eltern nie wieder gesehen.
Auch Isidor Roth, der sich in Israel Isi Shany nannte, erinnert sich gut an Leuschner, der nach seiner Erinnerung SS-Uniform trug: „Ich musste ihn einmal in der Woche auf seinem Motorrad begleiten, wenn er zu einem Gasthof fuhr, vor dem ich dann zwei Stunden wartete, bis er wieder herauskam, total betrunken.“ Der 1916 in Hamborn geborene Isidor Roth war mit seinem Freund Kurt Herzberg ein Jahr auf dem Brüderhof, hütete Schafe und Schweine, arbeitete im Kuhstall und stach Torf im Zwickmoor.
Doch die NS-Schergen verschonten auch den Brüderhof nicht. Als sie die jüdischen Jugendlichen am 28. Oktober 1938 bei der „Polen-Aktion“ abholten, versuchte Heinrich Leuschner, sie vor der Deportation mit 1000 Juden von Hamburg-Altona in deutsche Konzentrationslager in Polen zu retten. Der Zug wurde jedoch bei Zbaszyn nicht über die polnische Grenze gelassen. „Der Zug kam um 23.50 Uhr an der Grenze an, die gerade schloss. Wir blieben fast drei Tage. Dann wurde entschieden, nach Hamburg zurückzufahren“, erinnert sich Jonathan Kinarty, der von Dezember 1938 bis März 1939 auf dem Brüderhof arbeitete und heute in Rechovot nahe der Wüste Negev lebt. Am Hauptbahnhof holte Leuschner die jungen Juden ab und brachte sie wieder auf den Brüderhof. In der Reichspogromnacht verhaftete die SS auch fünf Juden auf dem Brüderhof.
Ab April 1939 wohnte noch eine neue Gruppe jüdischer Jugendlicher auf dem Brüderhof, darunter Berta Kern. Für Kinarty verlief die Zeit auf dem Brüderhof nicht problemlos: „Einmal, als ich mir am Ochsenzoll die Haare schneiden lassen wollte, warf mich der Friseur mit den Worten ,Juden sind hier unerwünscht‘ raus.“ Heute erinnert eine Stolperstele am Kringelweg an den Kibbuz Brüderhof, initiiert vom Norderstedter Kulturverein Chaverim – Freundschaft mit Israel.
Vortrag von Sieghard Bußenius, Mi 14.8., 18.00, Kerinnes-Haus, Kringelweg 99, Tangstedt. Eintritt 5 Euro. Anmeldung unter 04109/52 42.