Norderstedt. Langzeitarbeitloser aus Norderstedt klagt gegen die Mietobergrenzen vom Jobcenter des Kreises – und bekommt Recht.

Tzyschakoff. Joachim Tzyschakoff. Ein Name, bei dem manche Sachbearbeiter in den Jobcentern der Region genervt die Augen verdrehen. Andere wiederum zollen dem Mann Respekt. „Weil sie mittlerweile wissen, dass ich mich besser im System der Arbeitsagentur, der Jobcenter und im Arbeitsrecht auskenne als sie selbst“, sagt Tzyschakoff.

Was der 63-jährige Langzeitarbeitslose aus Norderstedt gerade wieder beeindruckend unter Beweis gestellt hat. Vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht in Schleswig hat er in einer Eilentscheidung erwirkt, dass das Jobcenter des Kreises Segeberg ihm nach wie vor 574,20 Euro Kaltmiete für seine 67 Quadratmeter große Wohnung in Garstedt bezahlen muss. Das Jobcenter wollte ihm nur noch 530 Euro überweisen und hatte ihn aufgefordert, seine Mietkosten zu senken oder sich eine neue Wohnung zu suchen.

Darüber hinaus hat das Gericht gleich die gesamte Berechnungsgrundlage infrage gestellt, mit der das Jobcenter im Kreis Segeberg die maximalen Unterkunftskosten für alle Arbeitslosen im Kreis festlegt. „Auf mein Urteil können sich alle anderen Arbeitslosen mit ähnlichen Fällen berufen. Die können jetzt einen Sachbearbeiter mehr einstellen beim Jobcenter, der nur Widerrufe bearbeitet“, sagt Tzyschakoff.

Für das Jobcenter und den Kreis Segeberg, der gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit die Einrichtung trägt, ist das Urteil ärgerlich bis peinlich.

Erneut sieht es so aus, als scheitere die Behörde dabei, rechtssicher festzulegen, wie viel Miete die Wohnung eines Arbeitslosen im Kreis kosten darf. Bis Ende 2016 berief sich der Kreis auf ein Gutachten der Firma Analyse und Konzepte zu den Mietobergrenzen – das beanstandete im Januar das Bundessozialgericht Kassel. Nun stellt das Sozialgericht das seit dem 1. Januar 2017 geltende Konzept für angemessene Miethöhen infrage, dass der Kreis bei Gutachtern der Firma Empirica beauftragt hatte. Die Schleswiger Richter bemängeln, dass im Gutachten ausschließlich Angebotsmieten, aber keine Bestandsmieten berücksichtigt werden. Das sei keine „realitätsnahe Ermittlung des Wohnungsmarktes“. Außerdem fehle eine Nachfrageanalyse in dem Konzept.

Tzyschakoff ist seit elf Jahren ohne Job und kämpft

Ob es nun endgültig Makulatur ist, muss in einem Hauptverfahren geprüft werden, ordnete das Sozialgericht an. „Das kann schon mal zwei Jahre dauern bis zum Termin. Und bis dahin gilt jetzt die Tabelle des Wohngeldgesetzes zuzüglich zehn Prozent“, sagt Tzyschakoff. Bei ihm eben 574,20 Euro und nicht 530 Euro. „Ist doch sowieso völlig ausgeschlossen, dafür in Norderstedt eine vergleichbare Wohnung zu finden“, sagt Tzyschakoff.

Der Mann ist so etwas wie ein hauptberuflicher Rebell gegen die Jobcenter-Strukturen. „Das Sozialrecht ist so kompliziert, da steigt nicht jeder durch“, sagt der Norderstedter. Er schon – aber er hatte auch genügend Zeit, sich das Kleingedruckte zu vertiefen.

Tzyschakoff ist jetzt seit elf Jahren ohne Arbeit. Und er wird es auch bleiben bis er in etwa zwei Jahren in Rente geht. Er hatte 30 Jahre lang einen sehr guten Job beim Norderstedter Unternehmen Stielow. „Ich verdiente gut. Und dann war ich ende 40 und wurde entlassen.“ In der Papier verarbeitenden Industrie einen vergleichbaren Job zu bekommen, daran sei er gescheitert. „Ich hatte noch ein paar Gelegenheitsjobs – das war’s.“

2010 wurde Tzyschakoff gemeinsam mit anderen Arbeitslosen in ein Qualifizierungsprojekt des Jobcenter mit dem schönen Namen „Mona Lisa“ gesteckt. „Völlig sinnlos. Wir haben Kuchen gebacken und Zeit totgeschlagen – von Qualifizierung konnte keine Rede sein.“ Tzyschakoff begehrte zum ersten Mal auf, weil er nicht einsah, dass er entweder an der sinnlosen Maßnahme weiter teilnehmen sollte oder andernfalls 30 Prozent Abzüge vom Arbeitlosengeld hinnehmen musste. Er klagte – und gewann. Das war so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Tzyschakoff merkte, dass manche Sachbearbeiter in den Jobcentern – sei es aus Überarbeitung, mangelnder Weiterbildung oder schlichter Rechthaberei – die aktuelle Rechtslage ignorierten und falsch entschieden. „Ich sag denen immer: Ich bin nicht euer Feind, ich kämpfe gegen das System und will nur, dass richtige Entscheidungen getroffen werden.“

Im Arbeitslosenforum finden Betroffene Infos und Hilfe

Mit einigen Schicksalsgenossen aus der „Mona Lisa“-Gruppe von 2010 gründete Tzyschakoff schließlich das Norderstedter Arbeitslosenforum. „Es ging uns darum, dass es einen Ort gibt, an dem sich alle Arbeitslosen vernetzen können und Antworten auf ihre Fragen bekommen.“ Der Ort ist virtuell und unter www.portios.de/phpBB3/ zu finden. Ein Forum, in dem Tzyschakoff und seine Mitstreiter nicht nur aktuelle Urteile auflisten, sondern aktuell auch die nach dem Urteil des Sozialgerichtes nun geltende Wohngeldtabelle.

Tzyschakoff erhielt über das Online-Forum Kontakt zu vielen verzweifelten Arbeitslosen. Er hilft ihnen bei Widersprüchen in Verfahren, er formuliert die Schreiben an die Jobcenter, ficht mit ihnen Klagen vor den Gerichten durch ( allein vier 2018) oder begleitet sie bei ihren Gesprächen im Jobcenter. Es ist widersinnig, bei Joachim Tzyschakoff von einem Arbeitslosen zu sprechen. Vielleicht hätte er Jurist für Sozialrecht werden sollen „Das mache ich dann im nächsten Leben“, sagt er und lacht laut.