Norderstedt . Habib Samadi (28) ist von Afghanistan zu Fuß nach Deutschland gelaufen – auf der Flucht vor Krieg und Terror.

Mit einem gewinnenden Lächeln öffnet er seine Tür. Aufgeräumt ist es in der Einzimmer-Wohnung, eine Couch-Garnitur, gegenüber ein Fernseher, ein Esstisch, links die Küchenzeile. Eine Junggesellen-Wohnung. Habibola Habib Samadi ist aber kein Junggeselle. Er hat eine Ehefrau und zwei Kinder. Seit sechs Jahren hat er seine Familie nicht mehr gesehen, ebenso wenig wie seine Eltern und seine Geschwister.

Einst waren sie sieben Brüder und Schwestern. Ein Bruder wurde in Afghanistan von US-Bomben getroffen. Habib Samadi stand neben ihm. Er nahm seinen toten Bruder auf die Schulter und brachte ihn in sein Elternhaus. Als die Mutter ihren toten Sohn sah, fiel sie ins Koma. 2008 war das, als die US-Truppen Bomben auf Kandahar warfen. Zwei Kilometer lief er mit seinem toten Bruder auf der Schulter nach Hause. Auch ein weiterer Bruder wurde von den Bomben getroffen, Habib Samadi sammelte seinen zerfetzten Körper ein. Das ist die Pflicht eines Bruders. „Ich habe sehr schlechte Sachen erlebt und gesehen“, sagt er ruhig und lächelt. Doch hinter diesem Lächeln steckt eine tiefe Traurigkeit.

Ab September singt Habib Samadi (Mitte) wieder im Gefangenenchor der Oper „Nabucco“ an der Hamburgischen Staatsoper mit.
Ab September singt Habib Samadi (Mitte) wieder im Gefangenenchor der Oper „Nabucco“ an der Hamburgischen Staatsoper mit. © HA | Linde-Lembke

Von schlechten Sachen, wie Habib Samadi sie erlebte, singen auch die Hebräer im Gefangenenchor von Giuseppe Verdis Oper „Nabucco“. Deshalb hat er sich auch sofort beworben, als die Hamburgische Staatsoper für die „Nabucco“-Aufführungen Flüchtlinge suchte, die im Gefangenenchor mitsingen sollten. Stolz zeigt Habib Samadi ein Foto von sich mit Georges Delnon, dem Intendanten der Staatsoper. Unter www.staatsoper-hamburg.de ist er im Trailer zu „Nabucco“ zu sehen. Ab 19. September steht „Nabucco“ wieder auf dem Spielplan – Habib Samadi singt mit. „Das ist eine große Chance für mich“, sagt der neue Norderstedter Bürger und kocht Kaffee.

Zwei seiner Brüder sind bei Bombenangriffen gestorben

Als er sich wieder setzt, beginnt er zu erzählen. Stockend zuerst, er will der Erinnerung nicht zu viel Raum lassen. Grausames ist darunter, viele Tote hat der 28-Jährige schon gesehen, nicht nur seine eigenen Brüder.

Sein Weg nach Norderstedt war weit von Kandahar, vor allem – er musste ihn zu Fuß gehen. Mit zwei Kindern auf der Schulter und im Arm. Nicht seine eigenen Kinder. Sondern die Kinder seiner Schwester. Gefährlich war dieser Weg, einmal zu Fuß quer durch Europa. Er ließ nicht nur seine Eltern zurück, sondern auch seine Ehefrau Sana, seine heute achtjährige Tochter Tamana, seinen siebenjährigen Sohn Muzamil. Sie leben mit seinen Eltern und einem Bruder in Pakistan und haben bis heute keine Chance, zu ihm nach Norderstedt zu kommen, denn Habib Samadi ist hier nur geduldet. Obwohl er zurzeit eine Ausbildung zum Mechatroniker in der Kfz-Werkstatt Lüdemann und Zankel in Henstedt-Ulzburg macht, bereits fließend Deutsch spricht und eine eigene Wohnung hat.

Wenn seine Erinnerungen ihn einholen, malt Habib Samadi oft große Bilder mit Händen und roten Herzen.
Wenn seine Erinnerungen ihn einholen, malt Habib Samadi oft große Bilder mit Händen und roten Herzen. © Heike Linde-Lembke | Heike Linde-Lembke

„Ich habe inzwischen viele Freunde, auch dank des Norderstedter Willkommen-Teams“, sagt Habib Samadi. Doch die Sehnsucht nach seiner Familie bleibt, zu der er seit sechs Jahren nur per Skype Kontakt hat.

Lediglich seine Schwester, mit der er floh, ist ihm von insgesamt sieben Geschwistern geblieben. Mit ihr und ihren zwei Kindern ging die Familie zuerst von Afghanistan nach Pakistan. Denn zur tödlichen Bedrohung durch die Taliban kam noch eine familiäre Tragödie hinzu. Der Ehemann seiner Schwester misshandelte sie derart brutal, dass die Familie mit ihr nach Pakistan zog. Aber auch dort spürte der Ehemann sie auf, und die Familie sah nur noch einen Ausweg, ihn, den Bruder, mit der Schwester und deren Kindern auf die Flucht nach Europa zu schicken.

Darüber geriet der Ehemann derart in Wut, dass er den Vater mehrfach mit dem Auto überfuhr. „Die Beine und Füße meines Vaters sind mehrfach gebrochen, er ist seitdem bettlägerig“, sagt Habib Samadi und zeigt ein Foto von seinem kranken Vater, dem er auch seine innere Stärke zu danken hat.

„Ich war zwölf Jahre alt, als ich einmal sagte ,Ich kann das nicht’, doch mein Vater machte mir sofort sehr klar, dass es ein ,Kann ich nicht’ nicht gibt“, erinnert sich Habib Samadi. Sein Vater hatte eine Autowerkstatt in Kabul. Wie schon sein Großvater. Dort hat Habib Samadi das Schrauben gelernt.

In Bulgarien wurde Habib von der Polizei verhaftet

Am 3. Februar 2014 begann für Habibola Samadi, seine Schwester und ihre beiden Kinder die große Flucht. Sie dauerte ein halbes Jahr. Mal gingen sie allein, mal schlossen sie sich mit anderen Flüchtlingen zu einer Gruppe zusammen. Sie mussten zu Fuß über breite Straßen und schmale, steinige Pfade in den Bergen. Zuerst liefen sie 15 Tage durch Iran, kamen in die Türkei, fuhren mit einem Auto nach Istanbul. Doch von dort wie jeder normale Tourist per Flieger in zwei Stunden in Hamburg zu landen – aussichtslos. Sie mussten zu Fuß weiter nach Bulgarien. Und wurden dort von der Polizei verhaftet und ins Gefängnis gesperrt.

„Meine Schwester konnte mit anderen Frauen und den Kindern weitergehen, ich bin nachts durch ein kleines Fenster aus dem Gefängnis geflüchtet, das an einem Wald lag“, erzählt Habib Samadi. Fünf Tage und vier Nächte sei er gelaufen, bis er endlich Sofia erreichte und – seine Schwester wiederfand.

Er wurde von der islamistischen Terror-Miliz aufgegriffen

Von Sofia gingen sie zu Fuß nach Serbien, durch Ungarn nach Österreich bis sie endlich Deutschland erreichten. Von Bayern aus wurden sie mit dem Zug ins Aufnahmelager nach Neumünster geschickt. Nächste Station: Norderstedt. 2016. „Norderstedt ist meine Lieblingsstadt, hier sind alle Menschen so freundlich und hilfsbereit“, schwärmt Habib Samadi und lächelt wieder, so, als wäre das, was er erzählt, in einem anderen Leben gewesen.

In einem Leben, in dem er 2010 mit zwei Freunden vor den Taliban schon einmal nach Bulgarien flüchten wollte, aber von der islamistischen Terror-Miliz aufgegriffen wurde: „Wir mussten niederknien, ich war in der Mitte, als die Taliban einen meiner Freunde köpften. Ich sollte für sie arbeiten, als ich das ablehnte, schossen sie mir ins Bein und in die Schulter.“ Die Kugel wanderte von der Schulter in seine Hand. Dort sitzt sie immer noch. Er konnte flüchten, quer durch den Krieg, zu seiner Familie. Das aber war erst der Anfang der Odyssee des Habibola Habib Samadi, eine Odyssee, die ihn nach Norderstedt führte.

Trotz großer Sehnsucht nach seiner Heimat; er möchte in Norderstedt bleiben und hofft, dass seine Ehefrau und seine Kinder zu ihm kommen können, wenn er seine Ausbildung als Mechatroniker in einem Jahr abgeschlossen hat. Die deutsche Sprache hat er sich selbst angeeignet. „Als ich hier angekommen bin, lief ich einfach durch die Straßen, fuhr mit Bus und Bahn und habe die Menschen gebeten, mit mir deutsch zu sprechen“, sagt der junge Mann. Auch Kinder-Fernsehen habe er ständig geguckt, um die Sprache zu lernen.

Der 28-Jährige will ein Buch über sein Leben schreiben

Mittlerweile darf er an den Deutsch-Kursen der Volkshochschule teilnehmen und ist über seine Deutschlehrerin Anna Philipp zum Migranten-Chor „Der Chor“ gekommen, weil er gern singt. „Ich habe in Afghanistan immer gesungen, doch heute singt dort niemand mehr“, sagt Habib Samadi wehmütig. Von Anna Philipp erfuhr er, dass die Hamburgische Staatsoper Flüchtlinge für den Gefangenenchor suchte. Auch das Willkommen-Team und deren Mitarbeiter Hartmut Rothfritz haben ihn stets unterstützt.

„Ich habe im Willkommen-Team sogar schon als Übersetzer gearbeitet“, sagt Habib Samadi stolz. Dafür stellte ihm das Team eine Anerkennungs-Urkunde aus. „Everybody smiles in the same language“, ist sein Motto.

Trotzdem holen ihn die furchtbaren Erlebnisse immer wieder ein. Dann malt er große Bilder oder baut für seine Kinder Autos aus Metall, beispielsweise einen Mercedes. Und: Er will ein Buch über sein Leben schreiben. Gleichwohl er erst 28 Jahre alt ist. Doch in diesen fast drei Jahrzehnten hat Habib Samadi so viel erlebt wie andere nicht in sieben Jahrzehnten. Viel Gutes war bis jetzt noch nicht dabei. Doch Habib lächelt. Er lächelt das Grauen einfach weg.

Meine Schwester konnte mit anderen Frauen und den Kindern weitergehen, ich bin nachts durch ein kleines Fenster aus dem Gefängnis geflüchtet
Habib Samadi (28)